Gentrifizierung durch Klimawandel: Auf dem Trockenen
Teile Miamis könnten im Meer verschwinden. Deshalb explodieren die Preise in einem armen Viertel, in dem vor allem Haitianer leben.
„Früher war es viel voller hier“, sagt Senonjules, während sie die Saftgläser zurecht rückt. „Aber dann wurden wir Haitianer verdrängt.“ Die 47-Jährige weiß, wovon sie spricht. Ende vergangenen Jahres verlor sie ihren Gemischtwarenladen. „Meine Vermieterin wollte statt 1.800 auf einmal 3.200 Dollar Miete im Monat haben.“
Entweder sie zahle – oder sie müsse gehen, habe die hellhäutige Immobilienbesitzerin gesagt. Senonjules konnte nicht zahlen, also musste sie das Viertel verlassen, in dem sie ihr halbes Leben verbracht hat. Wegen der immer höheren Mieten wohnt Senonjules auch nicht mehr in Little Haiti. Vielen anderen Kleinhändlern ist es ähnlich ergangen.
Vermieter, die die Miete für Wohnungen und Ladengeschäfte erhöhten oder den Mietern einfach so kündigten. Investoren, die Haitianern in Geldnot ihre Häuser abkauften und dann für ein Vielfaches des Preises veräußerten. All das hat dazu beigetragen, dass Little Haiti seinen Charakter zu verlieren droht. Die Bewohner sprechen von einer Invasion.
Dabei galt die Gegend bis vor Kurzem noch als gefährliches Schmuddelviertel. Das knapp neun Quadratkilometer große Gebiet bekam jahrzehntelang vom Bauboom in der Stadt nichts mit. Wegen der dort vorherrschenden Armut und Gewalt mieden die wohlhabenderen Einwohner Miamis die Gegend. Seit wenigen Jahren ist das anders.
Kein spektakulärer Ausblick, aber trocken
Investoren kaufen vermehrt Häuser. Galerien und Start-ups ziehen ins Viertel. Es ist der bekannte Ablauf der Gentrifizierung. Doch warum ausgerechnet Little Haiti? Die teuren Wohnlagen Miamis liegen fast ausnahmslos in Strandnähe oder im benachbarten Miami Beach. Hier tummeln sich seit Jahrzehnten die Spekulanten. Little Haiti liegt landeinwärts und hat weder einen spektakulären Ausblick auf die Biscayne Bay noch Anlegestellen für Boote zu bieten.
Der Grund für die neue Popularität Little Haitis könnte ein brauner Streifen auf einem digitalen Stadtplan sein. Er zieht sich entlang der Küste in einigen Kilometern Abstand zum Meer und Little Haiti liegt mittendrin. 2008 hat die Florida International University eine topografische Karte veröffentlicht, aus der hervorgeht, das große Teile Miamis im kommenden Jahrhundert im Meer versinken – Grund dafür ist der durch den Klimawandel steigende Meeresspiegel. Die Farbe braun signalisiert ein höher gelegenes Gebiet.
Und das wird in Miami gerade immer wertvoller. Die weltbekannte Strandmetropole leidet schon jetzt immer häufiger unter Überschwemmungen. In Miami Beach, das zum Teil auf Meeresniveau liegt, reicht mancherorts ein leichter Regen, um ganze Wohnblöcke unter Wasser zu setzen.
Der Karibikmarkt in Little Haiti liegt hingegen fast vier Meter über dem Meeresspiegel – das sind 2,40 Meter mehr, als das Wasser laut gängiger Prognosen bis 2060 in Miami mindestens steigen soll. Und sogar vor Überschwemmungen durch Hurrikans oder starke Regenfälle ist man einigermaßen sicher.
Die Vorteile der „Höhenlage“ werden jedes Jahr deutlicher. Nein, an Überflutungen in Little Haiti könne sie sich in den vergangenen Jahren eigentlich nicht erinnern, sagt Mimi Senonjules. Ist das der Grund, warum Little Haiti auf einmal so beliebt ist? Senonjules zuckt mit den Schultern. Heißt: Kann sein.
Das Muster ist immer gleich
Nancy Metayer hingegen ist davon überzeugt, dass der Anstieg des Meeresspiegels für die Aufwertung Little Haitis verantwortlich ist. Sie spricht von Klima-Gentrifizierung. Metayers Eltern sind selbst aus Haiti in die USA eingewandert – sie wohnt jedoch nicht im Viertel. Für die New Florida Majority, eine Aktivistengruppe für Minderheitenrechte, kämpft die 30-Jährige in Little Haiti gegen die Verdrängung. „Das Muster ist immer gleich“, sagt Metayer. Mietverträge würden nicht verlängert, Mieten erhöht, Häuser geräumt.
Da die meisten Haitianer zu arm für einen Häuserkauf sind und es in Florida keinen wirksamen Mieterschutz gibt, sind sie den Vermietern ausgeliefert. Wer doch ein Haus besitzt, dem bieten Investoren bares Geld, berichtet Metayer. „Ein paar Hunderttausend Dollar – die denken dann, das sei viel Geld. Bis sie feststellen, dass man dafür nirgendwo in Miami noch eine Bleibe bekommt.“
Überall in Little Haiti sieht man Schilder, auf denen Immobilienhändler Bargeld für Grundstücke und Häuser bieten. Die Preise explodieren. Im Branchenportal Zillow wird ein zugewuchertes Minigrundstück für fast 200.000 Dollar ausgeschrieben, das 2003 noch 40.000 Dollar kostete.
Nancy Metayer will ein Bewusstsein schaffen für den Zusammenhang zwischen der Erderwärmung und den Lebensumständen der Haitianer. „Die Menschen hier sind sich nicht einmal bewusst, dass es der Kliamwandel ist, der sie verdrängt“, sagt Metayer, während sie vor dem Karibikmarkt Flyer für einen Infoabend verteilt. Allerdings stößt die Aktivistin auf wenig Interesse – nicht nur bei Mimi Senonjules.
Auch die jungen Männer auf den Gartenstühlen wollen nichts vom Klimawandel wissen, erst recht nicht von Metayer. „Von einer Frau wollen sie sich nichts erzählen lassen“, sagt die Aktivistin. „Sie glauben, dass man sie aus dem Viertel verdrängen wollten, weil Weiße eben keine Haitianer mögen.“ Nach fünfzehn Minuten Diskussion gibt Metayer auf.
Little Haiti ist arm
Zu groß scheint die Kommunikationsbarriere zwischen der Aktivistin mit Abschluss einer Elite-Universität und Praktikum im Weißen Haus und den desinteressierten Bewohnern des Viertels zu sein. Ein paar Flyer wird Metayer zwar los, aber dennoch wirkt sie enttäuscht. „Es ist schwierig, hier einen Gemeinschaftssinn zu fördern.“ Klimawandel sei für die Menschen weit weg, die täglichen Nöte wichtiger. Sie versuche zwar, die Menschen vom Verkauf ihrer Häuser abzuhalten. „Aber sie sind arm. Es ist schwer zusammenzuhalten, wenn man Rechnungen zu bezahlen hat.“
In der Tat: Little Haiti ist arm. Fast ein Drittel der 30.000 Bewohner ist auf Lebensmittelmarken angewiesen, viele Häuser verfallen. Überall gibt es zugewucherte Grundstücke und wilde Müllhaufen. An vielen Kreuzungen sieht man Obdachlose, jeder versucht hier – fernab der schicken Strandvillen und Wohnkomplexen – irgendwie zu überleben.
Investor Peter Ehrlich
Die meisten Haitianer kamen ab Ende der 70er Jahre auf der Flucht vor dem brutalen Duvalier-Regime auf Booten nach Miami. Sie ließen sich in Lemon City nördlich der Innenstadt nieder und formten den Bezirk in Little Haiti um. Im Gegensatz zu den ankommenden Kubanern, die die US-Regierung wegen ihrer Gegnerschaft zur Castro-Regierung hofierte, wurden die Haitianer marginalisiert, abgeschoben und ihnen später die Einbürgerung erschwert.
Bis heute glauben viele Haitianer, dass man ihr Volk unterdrücken wolle, weil sie 1791 den Aufstand gegen die Sklaverei wagten und die Unabhängigkeit erkämpften. Tatsächlich versuchten zunächst Frankreich und später die USA, die Ex-Kolonie politisch zu dominieren und wirtschaftlich zu ruinieren. Zu diesem Mythos passt die Vertreibung aus Little Haiti.
Little Haiti. Schon den Begriff lehnt Peter Ehrlich ab. Er spricht lieber von Lemon City. „Ich respektiere die historischen Ortsnamen“, sagt der Immobilieninvestor, während er mit in seinem schwarzen BMW an einem Lagerhaus vorbeifährt. Er signalisiert: Die Haitianer haben hier keinen Gebietsanspruch. Das hilft möglicherweise auch bei der Vermarktung der Lofts und Ladenzeilen, die Ehrlich in Little Haiti besitzt. Vor mehr als zwanzig Jahren fing er als einer der ersten Investoren an, hier Objekte zu kaufen, „weil es in Miami Beach einfach zu teuer wurde“.
Und genau darin sieht Ehrlich auch den Grund für die zunehmende Beliebtheit des Viertels. „Wir sind hier nah an beliebten Innenstadtvierteln und die Preise sind günstig“, sagt Ehrlich. Die Haitianer zögen seit Jahren freiwillig weg und kümmerten sich teilweise zu wenig um ihre Ladengeschäfte. „Man muss Waren und Dienstleistungen anbieten, die die Leute kaufen wollen“, sagt Ehrlich.
Vor dem Loft schlafen Obdachlose
Doch es bleibt die Frage, für wen die neuen Dienstleistungen in Little Haiti da sind? Wer interessiert sich in einem Viertel mit 40 Prozent Arbeitslosigkeit für Improvisationscomedy, die ein neues Theater direkt neben dem Karibikmarkt anbietet? Welcher Mindestlohnarbeiter bestellt das vom französischen Koch zubereitete Biohuhn, das im Restaurant gegenüber verkauft wird – auf einem Grundstück, dass mittlerweile fünf Millionen Dollar wert ist? Wer kann sich Bilder des israelischen Künstlers leisten, der seine Galerie in einem nahegelegenen Loft eingerichtet hat, vor dem in der Mittagssonne Obdachlose schlafen? Die Zukunft, die Peter Ehrlich für das Viertel mitgestaltet, sieht dessen ursprünglichen Bewohner offensichtlich nicht mehr vor.
Zumindest dem Augenschein nach ist Ehrlich der einzige Weiße, der an diesem Tag in Little Haiti unterwegs ist. Die Menschen auf den Straßen schauen misstrauisch auf den vorbeifahrenden Geländewagen. Drinnen betet Ehrlich die Immobilienpreise verkaufter Grundstücke runter. Mit geübtem Auge scannt er im Vorbeifahren Gebäude. „Das ist eine schöne Häuserzeile, aber es fehlen Parkplätze.“ Abgesehen vom edlen Fahrzeug gibt sich Ehrlich eher zurückhaltend. Blaues Poloshirt, Jeans, Brille mit Kordel.
Der Investor denkt strategisch und langfristig und deshalb denkt er auch über den Klimawandel nach. Über seine Grundstücke sagt er: „Das hier könnte eines Tages ein Strandgrundstück sein.“
Seit einigen Jahren werde in Miami über Klima-Gentrifizierung diskutiert. „Die Leute haben irgendwann herausgefunden, dass das Gebiet zwischen vier und sieben Meter über dem Meeresspiegel liegt – und deshalb womöglich vom steigenden Meeresspiegel verschont bleibt.“ Seine Investments habe er zwar davor getätigt, aber das Thema werde immer wichtiger. Ein Run auf höher gelegene Immobilien stehe bevor. „Der Grundstücksmarkt wird bald wie das Reise-nach-Jerusalem-Spiel funktionieren. Man will nicht der letzte ohne Stuhl sein – oder eben allein auf einer Insel, auf der das Wasser meterhoch steht.“ Er selbst werde seine Wohnung nahe der Bucht bald verkaufen. „Dort wird die Lobby eines Tages überflutet sein.“
Einer der neuen Gutverdiener
Einer von Ehrlichs Mietern in der Lagerhauszeile ist Robert Ziehm, der sich dort ein Loft eingerichtet hat. Seit drei Jahren lebt er hier. Er ist einer der neuen Gutverdiener im Viertel. Der ehemalige Clubbetreiber wohnt seit den achtziger Jahren in Miami und hat mitbekommen, wie sich der Klimawandel auf die Touristenmetropole auswirkt. „In South Beach gibt es Straßen, die stehen praktisch bei jedem Regen unter Wasser.“ In seinem neuen Zuhause ist das nicht so. Die an der Wand vor der Toilette gestapelten Sandsäcke benötigte Ziehm nicht einmal im vergangenen September, als Hurrikan „Irma“ über Miami zog. Ziehm ist Immobilienmakler. „Es ist kein Geheimnis, dass die Höhe über dem Meeresspiegel ein immer wichtigerer Faktor auf dem Immobilienmarkt wird. Untereinander reden alle darüber. Und ich erwähne das gegenüber meinen Kunden immer.“ Die cleveren Kollegen investierten – wie er selbst – nur noch in Immobilien in höheren Lagen. Die ersten Immobilienbesitzer in Strandnähe würden bereits ihre Grundstücke verkaufen. „Und irgendwann werden alle aufwachen.“
Doch was bedeutet das Aufwachen der Immobilienbranche in Südflorida für die Bewohner von Little Haiti? „Irgendwann werden sie alle weg sein“, ist sich Robert Ziehm sicher. Hausbesitzer könnten ihre Mieter einfach rauswerfen, „das Recht ist in den USA auf der Seite der Hausbesitzer“. Doch selbst wer eine eigene Immobilie besitzt und trotz Angebot nicht verkaufen will, kann sich nicht sicher fühlen – denn mit der Aufwertung der Umgebung steigen die Grundstückspreise und damit die Grundsteuer. „Die Haitianer haben schlechte Karten“, stellt Ziehm fest.
Und die großen Investoren haben einiges vor mit Little Haiti. 17 Wohn- und Bürotürme mit bis zu 27 Stockwerken sollen im Norden des Viertels im sogenannten Magic-City-Projekt entstehen. Weitere Großprojekte sind in Planung. Aus dem verschlafenen Wohngebiet mit den eingeschössigen Bungalows wird bald eine eigene Mega City – aber für andere. Denn die Haitianer werden sich dort vermutlich keine Wohnungen leisten können.
So wie Mimi Senonjules. Sie kommt nur samstags zum Markt. Ein paar afrikanische Kleidungsstücke aus ihrem alten Laden verkauft sie noch am Stand. „Aber eigentlich komme ich nur vorbei, um ein wenig zu tanzen, mich zu entspannen und mit meinen Leuten zu reden.“ Ein wenig Heimatgefühl abseits ihres neuen Lebensmittelpunkts. Der liegt jetzt in North Miami – mehr als sieben Kilometer weit weg von dem einst so lebendigen haitianischen Mikrokosmos.
Gibt es dort Überschwemmungen? „Oh ja“, sagt Senonjules. „Andauernd.“
Die Recherche für diesen Artikel wurde ermöglicht durch das Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau