Genozidforscher über Klima und Gewalt: „Klimakrise begünstigt Genozide“

Der Hamburger Globalhistoriker Jürgen Zimmerer warnt vor Gewalt in Folge der Erderwärmung. Zusammen mit Kol­leg:in­nen hat er einen Appell verfasst.

Waldbrand in Kalifornien

Nur ein Vorbote: Waldbrand 2020 am Lake Hughes im kalifornischen Angeles Nation Forest Foto: picture alliance/dpa/Orange County Register via ZUMA David Crane

taz: Herr Zimmerer, warum warnen Ge­no­zid­for­sche­r:in­nen plötzlich in einem dramatischen Appell vor der Klimakrise?

Jürgen Zimmerer: Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der Gegenwart und betrifft auch uns Genozidforscher:innen. Wir, die wir uns mit Massengewalt in Vergangenheit und Gegenwart befassen, dürfen und wollen über die Gewaltpotenziale des Klimawandels nicht schweigen. Viele von uns, wozu auch ich gehöre, fürchten, dass „ethnische Säuberungen“ und Genozide deutlich zunehmen werden. Wie die Forschung zeigt, gibt es eine enge Korrelation zwischen Krisen und Gewalt.

Das Papier richtet sich auch an Ihre eigene Zunft.

Ja. Unser Appell ruft zur programmatischen Erweiterung auf. Die traditionell orientierte Genozidforschung war geprägt von den Konfliktlinien des Kalten Krieges und dem „Sieg“ der westlichen Moderne. Man ging lange davon aus, dass Genozide nur von Diktaturen verübt würden. Die Demokratisierung erschien als Prävention. Genozide wurden als Fehlfunktion und Störung in einem liberal-modernen Weltsystem interpretiert. Aber diese Position ist ideologisch und klammert einen wichtigen Punkt aus: Die Frage, ob diese Gewalt wirklich nur eine „Störung“ innerhalb eines „funktionierenden“ Systems ist – oder ob das System selbst die Gewalt mitproduziert.

Der Kapitalismus zum Beispiel.

Ja, zumindest in der Variante des extremen Verschwendungs- und Raubbaukapitalismus, wie er sich im Zuge der europäischen Expansion in den letzten 600 Jahren über die Welt ausbreitete. Während der kolonialen Globalisierung haben Europa und seine siedlerkolonialen Ableger sich in einem Prozess der Ressourcenakkumulation nach und nach den ganzen Globus unterworfen. Diese Expansion ist jedoch an ihre geografischen Grenzen gelangt, und wir befinden uns derzeit im Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung, dessen Folgen wir mental noch nicht erfassen.

56, Professor für für Globalgeschichte an der Uni Hamburg. Er ist Mitglied des Exzellenzclusters „Climate, Climatic Change and Society“ und veröffentliche zum Klimawandel, zur Umweltgewalt und zum Genozid sowie zur Geschichte des Kolonialismus.

Warum nicht?

Weil wir uns angewöhnt haben, auf Kosten anderer über unsere Verhältnisse zu leben. Deshalb fällt uns die Einsicht, dass dieser Modus geändert werden muss, sehr schwer. Dass das für uns lange „gut ging“, hat zu einer Mentalität geführt, die es uns unmöglich macht, uns auf die Notwendigkeiten der Klimakrise einzulassen: Nachhaltigkeit und Wohlstandsverzicht. Der ist aber im globalen Maßstab notwendig, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden. Und da ist der globale Norden – einschließlich China – in der Pflicht. Denn hier sitzen die Hauptverursacher, während die Auswirkungen stärker im globalen Süden zu spüren sind. Wir müssen dafür sorgen, dass es auch im globalen Süden die Chance auf Wohlstandsaufbau gibt, bei gleichzeitiger Abfederung der Klimafolgen. Sonst wird Massengewalt wahrscheinlicher.

Und wo kommt Genozid ins Spiel?

Die Geschichte der Genozide lässt sich auch als Geschichte von Krisen und Ressourcenkonflikten schreiben. Im Kern kann die Klimakrise auch als Ressourcenkrise verstanden werden, mit einer bereits einsetzenden Verknappung von Land, das bewirtschaftet und bewohnt werden kann. Verknappungskrisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Sie kann individuell sein, indem jeder gegen jeden kämpft. Oder aber, wahrscheinlicher: Eine Gruppe wird gewalttätig gegen eine andere, entrechtet, vertreibt oder ermordet sie. In derartigen Krisensituationen wird oft auf alte Feindbilder und ideologische Konstruktionen der/s Anderen, der/s Fremden zurückgegriffen. Der Übergang zum Genozid ist fließend.

Ihr Appell zeichnet noch ein weit größeres Gewaltszenario mit Millionen Toten.

Ja. Mit der Größe der Krise steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit für genozidale Gewalt, sondern auch deren Dimension. Sei es durch multiple Gewaltkonflikte, sei es durch ineinander übergehende Gewaltherde. Wie wir wissen, beeinflussen Konflikte kaskadenhaft auch die jeweils umliegenden Gebiete, und sei es durch Migrationsbewegungen. Was wir jetzt an coronabedingten staatlichen Einschränkungen unserer Freiheitsrechte erleben, ist nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird, wenn das Polareis geschmolzen und halb Kalifornien abgebrannt ist, die Niederlande und Bangladesch unter Wasser stehen. Und je später wir die Kurskorrektur einleiten, desto drastischer werden die Maßnahmen sein.

Auch die Migration wird zunehmen.

Ja, und Europa wird sich nicht abschotten können. Damit stellt sich die Frage: Wird Europa bereit sein, seine Grenzen noch stärker mit Waffengewalt gegen Klimageflüchtete zu verteidigen, wird man auf Menschen schießen lassen? Und was macht das mit dem Liberalen, Freiheitlichen, Humanitären, auf das sich Europas Selbstverständnis gründet? Wird das autoritäre Tendenzen weiter stärken? Wir erleben schon jetzt einen Rechtsruck, eine Verteidigungsbewegung, um die Welt, wie man sie kennt, aufrecht zu erhalten. Dabei ist gerade dies fatal: Eingefrorene Gesellschaften sind notorisch unflexibel, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Was wir stattdessen brauchen, ist ein völlig neues Denken über die Welt.

Das heißt?

Wie brauchen ein Denken, das nicht mehr um die Ideologie des Konsums und des Wachstums kreist, sondern auf Solidarität und Teilen von Wohlstand setzt. Je früher wir damit anfangen, desto weniger drastisch werden die irgendwann unweigerlich kommenden Einschnitte sein müssen. Statt Raubbaukapitalismus brauchen wir globale soziale Gerechtigkeit.

Welchen Beitrag kann die Genozidforschung da leisten?

Sie muss ihre Perspektive ändern. Die Genozidforschung hat sich bislang stark auf ideologische Ursachen konzentriert. Das liegt daran, dass sie aus der Holocaust-Forschung kommt und deren Blick auf das ideologische Moment – Antisemitismus etwa – übernommen und strukturelle Ursachen zu wenig berücksichtigt hat. Wenn man aber nur ideologisch „irregeleitete“, pathologische Verbrecher für Gewaltausbrüche verantwortlich macht, heißt das auch: Wir anderen sind es nicht. Wir sind die „Guten“.

Eine Täuschung.

Eine Selbsttäuschung. Wenn man die systemischen Ursachen für Raubbau, Klimawandel und die aus beidem resultierende Gewalt einbezieht, werden wir von Zuschauern zu Tätern. Das heißt: Wer hier einen SUV fährt, wer Klimaschutzpolitik blockiert, ist mitverantwortlich für Gewaltausbrüche andernorts.

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