Gemeinschaft in Coronazeiten: Die Großeltern als Zaungäste
Man lernt dazu, unter den Bedingungen von Corona. Spielstraßen sichern, Bäume bewässern, so entstehen neue Gemeinschaftsgefühle in Berlin-Kreuzberg.
W ar der Freitag noch eine diabolische Ausgeburt von Hitzehorror, ist seit Samstag plötzlich Spätsommer. Das Licht ist anders, und von der Frische überrascht tropfen Nasen. Das sollten sie in Zeiten wie diesen besser nicht. Schnell wurschteln wir die Plumeaus in die Bettbezüge und entdecken im Kleiderschrank erleichtert Pullover und Socken.
Bald werden die Kinder wieder drinnen spielen, und wir müssen uns einen anderen Aufbewahrungsort für unsere Masken überlegen. Noch hängen sie an den Magnetpfeilen des Monster-Dartspiels an der Wohnungstür, mittlerweile im dreifachen Dutzend. Zum Schulstart sind einige dazugekommen, denn zwei Schulkinder brauchen nicht nur Einkaufs-, sondern auch Schulklo-, Schulflur-, BVG- und Klassenfahrtmasken.
Bei der Einschulungsfeier für die Kleine stand jede Kernfamilie auf dem Hof in einem vorgesprayten Kreis, die Großeltern klebten in langer Reihe mit den Gesichtern zwischen den Zaunstäben und verfolgten die angenehm knappe Feierlichkeit von der Straße aus. Seitdem dürfen keine Eltern mehr aufs Schulgelände, die I-Dötzchen tapern maskiert und allein in ihre Klassenräume, und eigentlich ist das überhaupt kein Problem. Für die Kinder.
Wir frönen derweil neuen Hobbys, für die wir erst seit Corona überhaupt Zeit haben: Kiezaktivismus, Realness. Die Parkläufer im Görli geben Baumbadsäcke aus, so viele man wünscht. Die Nachbar*innen lassen sich motivieren, und zusammen binden wir den Kirschblüten-Hanami-Wunderbäumen entlang der Wiener Straße und allen Linden, die es laut „Gieß den Kiez“-Website brauchen können, Wassersäcke um.
Dealer kommen und gucken
Dann holen wir das Standrohr, das die temporäre Spielstraße auf der Forster Straße vom Bezirk gestellt bekommen hat, samt Hydranten-Kuhfuß und Feuerwehrschläuchen aus dem angesagten Café, in dem es lagert. Fühlen uns gut, weil wir nicht vor einem Herzchen-Flat-White sitzen wie das International Hipsterdom, sondern Säcke füllen mit druckvollem Strahl.
Dealer kommen und gucken. Türkisch sprechende Familien kommen und gucken. Deutsch sprechende Familien in E-Lastenrädern halten und gucken. Nur die amerikanisch sprechenden jungen Menschen mit den Krepphaaren und Kreppsohlen gucken nicht mal. Die reden nur laut und gehen vorbei.
Wir schuften zweieinhalb Stunden lang, ziehen die schweren Schläuche von Baum zu Baum, durch Hundekot, Staub, Müll und versengtes Gras, werden dreckig und nass, füllen 35 Säcke und fühlen uns heldenhaft.
Schon zwei Tage später springen wir als Kiezlots*innen ein auf der temporären Spielstraße, eingerichtet zur Außenraumbetätigung coronabeengter Kinder. An 19 Stellen in Xhain dürfen sie seit Mai einmal pro Woche wie Pilze aus dem Boden schießen, jede Spielstraße vom Bezirk ausgestattet mit gelben Warnwesten, Absperrungen, behördlicher Genehmigung und einem beherzten „Macht mal!“.
Freiwilligen-Notstand
Nach fast vier Monaten und Ferienflaute machen aber jetzt nicht mehr so viele mit, es herrscht Freiwilligen-Notstand. Also wir. Rein in die Westen, Durchfahrt verboten aufgestellt, das Standrohr wieder auf einen Hydranten gepfropft, kreischende Kinder gettomäßig abgeduscht, mosernde Autofahrer in die Schranken gewiesen.
Damit ich es mir mittelfristig leisten kann, so viel Gutes zu tun, bewerbe ich mich für die Pilotstudie zum bedingungslosen Grundeinkommen. Die ausgewählten Studienteilnehmer*innen sollen für drei Jahre monatlich 1.200 Euro Grundeinkommen beziehen und nebenher wissenschaftlich evaluiert werden. Das Paradies. Bücher könnten geschrieben, ökologischer Landbau auf verödeten Spielplätzen betrieben, Kinder im Worst Case heimbeschult, Handwerke erlernt, Läden eröffnet werden. Ich sehe mich als Premium-Kandidatin und habe richtig gute Laune.
Einen Tag später steht im Internet, dass sich 1 Million Menschen beworben haben, innerhalb von 70 Stunden. Huch.
Kirsten Riesselmann
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