Gelbwesten-Proteste in Frankreich: Sie fordern eine bessere Demokratie
Nach acht Wochen der teils gewaltsamen Proteste werden konkrete politische Ziele der Demonstrationen erkennbar. Die Regierung will nun zuhören.
Zwar beteiligen sich weniger Leute an den Demonstrationen, Straßensperren und anderen Aktionen, doch der Charakter des Protests hat sich geändert. Trotz der gelegentlich sehr gewaltsamen Krawalle in mehreren Städten hat eine Mehrheit der französischen Bevölkerung Sympathien für die Gilets jaunes. Laut der letzten Umfrage wünschen 55 Prozent, dass die Bewegung fortgesetzt werde.
Alles Bitten und Drohen der Regierung hat daran nichts geändert. Was sie bisher als Zugeständnisse angeboten hat, wird von einem überwiegenden Teil der seit dem 17. November in Gelb Demonstrierenden als geradezu provokativer Versuch betrachtet, sie abzuspeisen. Denn die von Staatspräsident Emmanuel Macron angekündigte Steigerung der Kaufkraft für die niedrigsten Einkommen hat sich im Wesentlichen als eine Art Zulage entpuppt, welche die Berechtigten bei der Fürsorge beantragen sollen.
Wenig Erfolg hatte auch die verschärfte staatliche Repression. Noch vor Weihnachten waren laut Angaben des Innenministeriums mehr als 4.500 Personen bei Aktionen der Gilets jaunes festgenommen worden. Mehrere Hundert – darunter der Wortführer Éric Drouet – sollen sich vor der Justiz verantworten.
Zweimonatige landesweite Debatte
In zahlreichen Ortschaften in der Provinz liegt in den Rathäusern ein Beschwerdebuch auf, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Forderungen vorbringen können. Das Vorgehen erinnert nicht von ungefähr an die „Cahiers de doléance“ (Klageschriften) vor der Französischen Revolution von 1789. Auf dieser Grundlage soll auf Initiative der Regierung ab Mitte des Monats eine zweimonatige landesweite Debatte auf lokaler Ebene stattfinden.
Nach den Vorstellungen der Regierung sollen diese Diskussionen auf vier Schwerpunktthemen beschränkt werden: Steuern, Energiewende, Rolle der Bürger in der Demokratie und die Organisation des Staats. Rund die Hälfte der derzeit Befragten glauben, dass die Staatsführung die dabei geäußerte Volksmeinung berücksichtigen werde.
Den Gelbwesten genügt eine informelle Mitsprache nicht, sie wollen eine echte Selbstbestimmung „durch das Volk für das Volk“. Im Zentrum der Debatten wird ihre wichtigste Forderung nach einem Referendums- und Initiativrecht für die Bürger (RIC) stehen. Dieses neue Volksrecht soll es erlauben, mit einer bestimmten Zahl von Unterschriften eine Debatte samt Abstimmung über bereits vom Parlament verabschiedete oder neu vorgeschlagene Gesetzestexte zu verlangen.
Befürworter nennen als Vorbild die Schweiz, wo seit 1848 eine solche „direkte Demokratie“ existiert und dort keineswegs die institutionelle Macht destabilisiert, sondern im Gegenteil zur Konsensbildung beigetragen hat. Doch was bei den Eidgenossen funktioniert, sei zu riskant in Frankreich, meinen die Gegner des Vorschlags. Sie befürchten, dass auf diesem Weg zum Beispiel die Wiedereinführung der Todesstrafe oder die Abschaffung der legalisierten Ehe für alle möglich sei.
Die populistische Regierung Italiens hat sich am Montag hinter den Protest der „Gelbwesten“ in Frankreich gegen Staatschef Emmanuel Macron gestellt. „Gelbwesten – bleibt standhaft!“, schrieb der stellvertretende italienische Regierungschef Luigi di Maio im Blog seiner Fünf-Sterne-Bewegung. Der Vize-Regierungschef und Innenminister Matteo Salvini von der fremdenfeindlichen Lega-Partei pflichtete seinem Kabinettskollegen bei und erklärte, er unterstütze „ehrenhafte Bürger“ in einem Protest gegen einen Präsidenten, der „gegen sein Volk“ regiere. (afp)
Die Forderung nach Mitbestimmung geht noch weiter: Einige möchten, dass per Referendum sogar gewählte Volksvertreter oder Mitglieder der Exekutive, am liebsten auch der Staatschef persönlich, abgesetzt werden können. Ein solches revolutionär anmutendes Ansinnen sprengt den institutionellen Rahmen und macht darum nicht nur der Staatsführung Angst.
Regierungssprecher Benjamin Griveaux warnte vor „Agitatoren“, deren einziges Ziel es sei, die Regierung zu stürzen. Noch fehlt diesen „Umstürzlern“ dazu eine Strategie und eine minimale Organisation. Die nationale Demokratiedebatte oder die Kampagne für die EU-Wahlen könnte ihnen aber einen neuen Anlass liefern, mit weitergehenden und eigentlich unerfüllbaren Forderungen erneut an der Staatsmacht zu rütteln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag