Geflüchtete in Europa: Vor dem Loch im Stacheldraht
Pakistaner, Afghanen und Syrer warten in der Sonne und hoffen, dass es weitergeht. Ein Besuch an der griechisch-mazedonischen Grenze.
George Alshaibeh ist vierzig, ein Zahntechniker. Man sieht ihm nicht an, dass er Flüchtling ist. Mit seinem grauen Hemd wirkt er, als wäre er auf dem Weg zur Arbeit. Der Bus wackelt, er hält sich am Sitz fest. An seinem Handgelenk baumelt ein Rosenkranz.
Bis vor einem Jahr hat er in Damaskus für ein US-Unternehmen gearbeitet und gut verdient. Er deutet auf die anderen um sich im Bus. „Wir sind schon alt, unser Leben ist bald zu Ende, noch zehn, zwanzig Jahre. Wir ziehen nicht für uns los, sondern weil wir eine Zukunft für unsere Kinder wollen.“ Er hat seine Frau in Damaskus zurückgelassen und seine einjährige Tochter.
Der Bus stoppt an einem Hotel, an der Straße nach Evzoni, mitten im Nichts. George Alshaibeh sagt, dass hier Schleuser arbeiten. Das weiß er von Freunden und aus dem Internet. Er kauft Wasser und ein paar Nahrungsmittel, dann machen sie sich auf den Weg, durch Stoppelfelder, vorbei an Sonnenblumen, am Horizont die blauen Gebirge Mazedoniens. Irgendwann tauchen Gleise auf – und schließlich ein paar blaue chemische Toiletten. Freiwillige und NGOs haben eine Plane zwischen den Bäumen ausgebreitet. Es gibt Wasser und erste Hilfe. Mehrere hundert Migranten sitzen in der harten Mittagssonne.
Warten an der Grenze
Sie werden in Gruppen von fünfzig Leuten nach Mazedonien hereingelassen, sagt eine Frau. Die mazedonischen Polizisten tragen Flecktarn und wirken wie Soldaten. Sie bewachen das Loch im Stacheldraht, durch das die Gleise nach Mazedonien führen. Ihre Schutzschilder haben sie senkrecht vor ihre Füße gestellt.
Am Donnerstag vergangener Woche hatte Mazedonien den Ausnahmezustand verhängt und die Grenze nach Griechenland geschlossen. Die Abendnachrichten zeigten Flüchtlinge, die sich auf der mazedonischen Seite um die wenigen Züge prügelten, die nach Serbien fuhren. Die Polizei schoss mit Blendgranaten und Tränengas. Schließlich wurde die Grenze wieder geöffnet. „Aber es ist sehr langsam“, sagt George Alshaibeh. „Die Leuten vor uns warten schon seit Mitternacht. Meine Hauptsorge ist, dass wir hier die Nacht verbringen müssen. Nicht meine erste im Wald, aber es ist schwierig.”
Alle, die mit ihm im Bus waren, sitzen jetzt in der Sonne. Regelmäßig müssen sie aufstehen. Entweder, weil eine andere Gruppe nach Mazedonien gelassen wurde und sie nachrücken, oder wegen eines Güterzugs, der über die Grenze fährt.
Eine Frau läuft zwischen den Flüchtlingen herum, sie hat ihren Hut tief ins Gesicht gezogen und trägt eine große blaue Tasche. „Salam aleikum! Äpfel, Pfirsiche, ein Kilo einen Euro“, ruft sie. „Es ist teuer“, antwortet einer der Flüchtlinge, aber sein Freund kauft doch zwei Tüten. Die Kunden der Frau kommen aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und Nigeria. Ihr Mann packt die Tüten. Beide haben ihre Arbeit in der griechischen Wirtschaftskrise verloren, sagt sie, sie war Chefin in einem Restaurant, er Geschäftsmann. Sie haben gerade keine andere Möglichkeit Geld zu verdienen, als mit dem Verkauf von Obst an die Flüchtlinge.
Um 5 Uhr nachmittags wartet George Alshaibeh immer noch in der Sonne.
Auf der anderen Seite der Grenze liegt Gevgelija, die erste kleine Stadt in Mazedonien. Sie wirkt schläfrig. Am Ende der Stadt führt ein Feldweg zu einem Lager. Dort, mitten in den Feldern, hat Mazedonien drei große Zelte für die Flüchtlinge aufgestellt. Mehrere Lkws fahren hin und her und transportieren Erde. Dazwischen Planierraupen. Die Mazedonier erweitern das Lager.
Von der Grenze führt ein schmaler Weg bis zum Lager. Dort verkaufen Straßenhändler Zigaretten, Wasser, Bananen, Tee und Kaffee. Die Polizisten teilen sich hier auf: Ein Teil kümmert sich um die Flüchtlinge, ein anderer Teil um die Händler an der Grenze, die hier eigentlich nichts verkaufen dürfen. Manchmal kommt ein Polizeiauto vorbei, dann springen die Händler ins Gebüsch. Zwei andere Polizisten sitzen unter einem Baum und warten auf die nächste Gruppe Flüchtlinge.
Heidenau war ein Fanal für die rechtsextreme Szene: Es geht wieder was. Einen Essay über die Welle rechten Terrors lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. August 2015. Mehr zur Flüchtlingskrise: Unsere Reporterin begleitete eine syrische Familie beim Grenzübertritt nach Mazedonien. Außerdem: Ein Franz-Josef-Strauß-Alphabet zum hundertsten Geburtstag. Und: Leben mit Alzheimer. Als seine Ärztin Norbert Heumann von einer neuen Studie erzählt, klammert er sich an eine vage Hoffnung. Nicht zuletzt: Ein Besuch in Wiens berühmtester Imbissbude. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Unsere Schicht dauert zwölf Stunden mindestens, oft länger“, erzählt einer. Wie viele seiner Kollegen ist er als Verstärkung hier. Sie registrieren die Flüchtlinge und geben ihnen ein Papier, mit dem sie 72 Stunden legal im Land bleiben können.
Es ist dunkel geworden. Eine Gruppe von Syrern kommt aus dem Lager und wird zu Bussen und Taxis geführt. Zwischen 20 und 25 Euro pro Person kostet die Reise. Die Lichter der Autos beleuchten die Menschen nur kurz.
Warten auf den Zug
Am Tag darauf ist die Temperatur gestiegen. Die Flüchtlinge sitzen am Rand des Lagers. Manche haben Sonnenschirme bekommen. Heute Nachmittag soll ein Zug ankommen, der sie nach Serbien bringt. Um drei, vier oder fünf, so genau wissen sie es nicht. Derselbe Polizist wie in der Nacht davor sitzt mit seinen Kollegen wieder unter einem Baum und wartet.
Seit Juni gilt ein neues Gesetz, das Flüchtlingen drei Tage Zeit gibt, um Mazedonien zu durchqueren. Davor mussten sie sich auf Schleuser verlassen.
„Es gab Monate, in denen ich fast nicht schlafen konnte“, erinnert sich der Polizist. „Jede Nacht habe ich Anrufe bekommen, wenn es neue Fälle gab.“ Oft ging es um Flüchtlinge, die von Schleuserbanden ausgeraubt oder zusammengeschlagen wurden. Es war sehr gefährlich für sie damals in Mazedonien. „Es kostete zwischen 500 und 1000 Euro, Mazedonien zu durchqueren. Heute sind es 10 Euro mit dem Zug. Die Schleuser sind arbeitslos.“
Am Ende des Lagers wurde entlang der Gleise inzwischen ein provisorischer Holzbahnsteig gebaut – um die Flüchtlinge vom Bahnhof der Stadt fernzuhalten. Ein junger Mann aus Syrien fragt die Polizisten auf Englisch, warum sie nicht den Bus nehmen können. Der Polizist sagt: „Trust me, I know the situation.“ Vertrauen Sie mir, ich kenne die Situation. „Ich sehe hier jeden Tag Tausende Leute in Ihrer Lage. Nehmen Sie keine Taxis oder Busse, der Zug ist billiger. Wir interessieren uns nicht für eurer Geld.”
Um 4.30 Uhr kommt endlich der Zug. Die Flüchtlinge stehen in Gruppen Schlange, bis sie einsteigen können. Drinnen stellen sie schnell fest, dass es nicht für alle Sitzplätze gibt – und es sind zwei, drei Stunden bis zur Grenze. Eine Familie zögert. Letztendlich steigen sie auch ein. Vor dem Zug filmen Kameras der verschiedenen Weltmedien die Prozedur.
George Alshaibeh ist nicht mehr im Lager, und sein Handy ist aus – er sagte, er müsse Akkukapazität sparen. Wahrscheinlich ist er schon nach Serbien gefahren. Er ist, anders als viele andere Flüchtlinge hier, wohlhabend. Wenn ihm in Serbien das Geld ausgehen sollte, hat er gesagt, wird seine Familie in Damaskus sein Auto verkaufen, damit er weiterreisen kann.
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