Gefängnisskandal in Augsburg: Häftlinge berichten von Schlägertrupp und Kellerverlies
Der Augsburger Gefängnisskandal weitet sich aus: Lange soll es in der JVA Gablingen Missbrauch gegeben haben. Zwei frühere Insassen berichten.
Das ist so ungefähr das Bild, das sich ergibt, wenn man vielen Berichten über die JVA Gablingen Glauben schenkte, die aktuell an die Öffentlichkeit dringen. An welchen Stellen das Bild unscharf, vielleicht sogar eine Täuschung, möglicherweise aber auch unvollständig ist, lässt sich längst noch nicht sagen.
Dass vieles daran stimmen dürfte, ergibt sich jedoch aus der Vielzahl der Berichte, die dem gezeichneten Szenario mittlerweile zugrunde liegen und sich gegenseitig in wesentlichen Punkten bestätigen. Sie stammen von ehemaligen Häftlingen, aber auch von Gefängnisseelsorgern, Anstaltsärztinnen und Bediensteten. Daran, dass in der JVA zumindest – wenn man es freundlich formulieren mag – so einiges im Argen lag, gibt es mittlerweile kaum noch Zweifel.
Immer wieder taucht in dem Bild eine Art Kellerverlies auf: der besonders gesicherte Haftraum (BgH). Das ist ein leerer Raum ohne Tageslicht, der Boden aus Beton, im Eck ein Loch zum Verrichten der Notdurft. Hier hat die Anstalt Gefangene eingesperrt, nackt. Für Stunden, eher für Tage, nicht selten auch für Wochen. Wenn sie Glück haben, bekommen sie eine Papierunterhose. Wenn sie großes Glück haben, sogar eine Gummimatratze.
Statt des Arztes kamen die Schläger
Auch was Albert Stöcker und Michael Neumann, die in Wirklichkeit anders heißen, der taz erzählen, passt in das Bild all dieser Vorwürfe. Die beiden Freunde und früheren Geschäftspartner saßen von Juli 2020 bis September 2021 in der JVA Augsburg-Gablingen in Untersuchungshaft. Der überwiegende Teil der Insassen sind Untersuchungshäftlinge. Angeklagt waren Stöcker und Neumann wegen „gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern“. Die Staatsanwaltschaft hatte sie beschuldigt, für ihr Speditionsunternehmen osteuropäische Lastwagenfahrer anzuwerben und in Deutschland zu beschäftigen, ohne ihnen die dafür nötigen Aufenthaltstitel zu verschaffen.
Auch sie beschreiben beispielsweise die Sicherungsgruppe der JVA, die sie „die SIG“ (sprich „Sigg“) nennen, als eine Art Schlägertrupp, der unter den Häftlingen berüchtigt ist. Zu fünft oder sechst seien Männer der SIG stets aufgetreten, hätten komplett schwarze Uniformen getragen. Eine klassische Drohung der normalen Justizbeamten sei gewesen: „Oder sollen wir die SIG rufen?“
Wenn die SIG tatsächlich gekommen sei, seien die betroffenen Gefangenen in der Regel für mindestens drei Tage im BgH verschwunden. So zumindest die Beobachtung Stöckers, der als sogenannter Hausarbeiter als einer der wenigen Untersuchungshäftlinge in der JVA Arbeit hatte, während das Gros der Inhaftierten 23 Stunden am Tag untätig in ihren Zellen saß. Hausarbeiter wurden für Putzdienste, die Essensausgabe und ähnliche Aufgaben eingesetzt. So bekam Stöcker auch etwas mehr von den Vorgängen in der Anstalt mit als viele Mithäftlinge.
Einmal habe er erlebt, wie ein Häftling zweimal – mit einer einwöchigen Unterbrechung – für je drei Wochen im BgH gehalten wurde, erzählt der 59-Jährige. Als er den Mann zwischen den Aufenthalten getroffen habe, sei er vollkommen verstört und orientierungslos gewesen. Nach Aussage von Beamten habe man ihn im BgH zudem zwangsernähren müssen. Stöcker habe bei der Reinigung des Raumes dann die Zugänge für die künstliche Ernährung entfernen müssen.
Ein andermal habe sich ein Gefangener in seiner Verzweiflung geritzt. Als die Wunde aber zu stark zu bluten begonnen habe, habe er es mit der Angst zu tun bekommen und nach dem medizinischen Dienst gefragt. Er sei dann in den dortigen Warteraum gebracht worden, doch statt eines Arztes sei wenig später die SIG erschienen und habe den Mann zusammengeschlagen. Stöcker habe hinterher die Blutspur entfernen müssen. Diese habe vom Wartezimmer über einen Verbindungsraum zum Nachbarhaus, den Fahrstuhl und einen Kellerflur bis zum BgH gereicht.
Zur Strafe in den Keller
Anders als etwa der sogenannte Bunker, eine spezielle Arrestzelle, in die die Gefangenen zur Strafe isoliert und ohne persönliche Gegenstände gesperrt werden können, in der es aber auch ein Bett gibt, dient der BgH nicht zur Bestrafung. Hier dürfen Häftlinge nur untergebracht werden, wenn akute Gefahr für andere oder sie selbst besteht. Allerdings ergibt sich aus zahlreichen Zeugenaussagen, dass die BgHs in Gablingen regelmäßig als Disziplinarmaßnahme eingesetzt wurden, manche sagen auch: zur Folter. Das bestätigt auch Albert Stöcker.
In dem einen Jahr, in dem er als Hausarbeiter eingesetzt war, habe er mehrfach mitbekommen, wie Gefangene in den BgH gebracht worden seien. Er habe dann beispielsweise das Essen in „BgH-konforme Behälter“ umfüllen müssen, eine Gummischüssel mit einem Gummilöffel. Mindestens sechsmal habe er Blutspuren beseitigt, nachdem die SIG jemanden in den BgH gebracht hatte.
Michael Neumann hatte keine Arbeit in der JVA, kam also nicht im Haus herum. Einmal allerdings erlebte auch er einen Übergriff der SIG. Es war die Zeit der Pandemie. Während des einstündigen Hofgangs habe einer der Mithäftlinge seine Maske nicht korrekt aufgesetzt. Sofort sei daraufhin die SIG gekommen und habe den Mann noch vor Ort verprügelt. Für zwei Wochen habe man ihn dann in den BgH gesperrt. Als er danach wieder zum Hofgang gekommen sei, habe er noch deutliche Spuren der Verletzungen im Gesicht getragen. „Das war ein Moldawier, so ein kleiner, dünner Mann. Der verstand kein Deutsch und wusste überhaupt nicht, worum es geht.“
40 Kilo verloren
Gegen einen anderen Mithäftling sei als Strafmaßnahme eine Besuchssperre verhängt worden. Er habe mindestens drei Wochen lang keinen Besuch mehr von seiner Familie bekommen dürfen. Der Grund für die Sanktion: Der Mann hatte während eines Besuchs einen Papierflieger für seinen kleinen Sohn gebastelt.
Sie selbst hätten keine physische Gewalt in der JVA erlebt, berichten Neumann und Stöcker. Für ihn sei vor allem die Isolation belastend gewesen, sagt Neumann. Während der 17 Monate habe er sich „in einem psychisch völlig instabilen und suizidalen Zustand“ befunden. Er habe 40 Kilo Gewicht verloren, unter Panik- und Angstzuständen gelitten. Von seinem Gesundheitszustand sei jedoch keine Notiz in der JVA genommen worden. Er habe weder ärztliche noch psychologische Hilfe bekommen.
Natürlich sind die Schilderungen der beiden Ex-Häftlinge keine objektiven Berichte, auch lassen sie sich naturgemäß im Einzelnen nicht überprüfen. Jedoch deckt sich vieles davon mit dem, was ehemalige Häftlinge, aber etwa auch Ärzte, Seelsorger oder Bedienstete, zuletzt in anderen Medien berichtet haben. Das bayerische Justizministerium will auf taz-Anfrage zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen, verweist auf die grundsätzlichen Statements des Ministers und darauf, dass man sich prinzipiell nicht zu „strafrechtlichen Einzelfällen“ äußere. Ein konkretes Dementi immerhin gibt es: Es habe in der JVA Gablingen keinen Fall gegeben, in dem Häftlinge während der Unterbringung im BgH zwangsernährt worden seien.
Neumann erhebt aber noch einen weiteren schweren Vorwurf: Er sieht sich durch die Umstände der U-Haft um sein Recht auf ein faires Verfahren gebracht. Schon wenn man in Gablingen den Wunsch geäußert habe, seinen Anwalt anzurufen, sei dies grundsätzlich abgelehnt worden. „Schreiben Sie einen Brief“, habe es dann geheißen. Eine in Bayern damals übliche Praxis, wie das Ministerium bestätigt. Erst seit einer Änderung des Strafvollzugsgesetzes Ende 2022 sei diese gelockert worden.
Da sei aber nicht nur das Telefonverbot gewesen, so Neumann, sondern beispielsweise auch die Sache mit den Prozessakten: Diese hätten in seinem Fall 36.000 Seiten umfasst. Üblicherweise bekomme man derart umfangreiche Unterlagen von seinen Anwälten per USB-Stick übermittelt. In Gablingen hätten sich aber rund 180 Häftlinge einen Laptop teilen müssen. So habe er sich nicht adäquat auf seine Verteidigung vorbereiten können. Neumanns Anwalt, der Münchner Strafverteidiger Stephan Tschaidse, sagt zwar, er habe Neumann die Unterlagen in Papierform zur Verfügung gestellt – laut Neumann war das allerdings nur ein Aktenordner mit ein paar hundert Seiten.
„Untersuchungshaft schafft Rechtskraft“
Bleibt die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit der Untersuchungshaft in Fällen wie dem von Neumann und Stöcker. „Die Verhängung von Untersuchungshaft wird nach meiner Erfahrung in Bayern inflationär gehandhabt“, sagt etwa Anwalt Tschaidse. In der Regel werde sie mit Fluchtgefahr begründet. Eigentlich seien hierfür aber konkrete Anhaltspunkte notwendig, dass sich ein Angeklagter eher einem Verfahren entziehen werde, als ihm beizuwohnen. Mit fadenscheinigen Begründungen werde in Bayern aber dennoch Untersuchungshaft verhängt. Von „Wischiwaschi-Geschwurbel“ spricht Tschaidse.
Albert Stöcker versteht auch nicht, wie man in seinem Fall eine Fluchtgefahr annehmen konnte. Er hatte Familie, Arbeit, wieso hätte er fliehen sollen? Zudem war er ja überzeugt, dass die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft falsch seien.
Tschaidse erinnert an einen Satz, den er schon während seines Studiums gelernt habe: „Untersuchungshaft schafft Rechtskraft.“ Die zynische Juristenweisheit besagt nichts anderes als: Wenn ein Beschuldigter erst einmal in U-Haft sitzt, erhöht das seine Bereitschaft zum Geständnis ungemein.
Sollte die bayerische Praxis der Verhängung von Untersuchungshaft tatsächlich System haben: In Neumanns und Stöckers Fall hat es funktioniert. Im November 2021 haben beide nach einem Verständigungsvorschlag des Gerichts gestanden. Sie wurden zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren beziehungsweise drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Zunächst wurden sie aber auf freien Fuß gesetzt und konnten Weihnachten mit ihren Familien feiern. „Um da rauszukommen“, sagt Neumann, „hätte ich auch einen Mord gestanden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin