„Gefährliche Orte“ in Sachsen: Keiner kontrolliert die Kontrollen
An „gefährlichen Orten“ darf die sächsische Polizei ohne konkreten Verdacht Personen durchsuchen. Dabei gelten weniger Auflagen als in anderen Ländern.
„Gegen halb zehn an einem Dienstagabend hat mich die Polizei vor einem Supermarkt angehalten und mich einer ‚verdachtsunabhängigen Personenkontrolle‘ unterzogen. Die haben mich und auch meinen Rucksack komplett durchsucht. Einer von den Beamten meinte, ich befinde mich in einem Gefahrengebiet, deswegen dürfen die das.“ So schildert Jonas F., Schüler aus Leipzig, den Abend des 29. Januar. Wenige Meter von seiner Haustür entfernt sei er an dem Tag in Connewitz kontrolliert worden. „Ich war auch nicht der Einzige, den die an dem Abend komplett auseinandergenommen haben.“
An sogenannten „gefährlichen Orten“ darf die Polizei in Sachsen auch ohne konkreten Verdacht Passanten und Anwohner kontrollieren. Gehören Teile des Leipziger Südens zu diesen Zonen? Und warum wurde das bisher nicht öffentlich kommuniziert? Immerhin handelt es sich bei derartigen Kontrollen um Eingriffe in Grundrechte. In anderen Bundesländern sind solche Kontrollen in der Regel stärker reguliert als in Sachsen.
Ob die Kontrolle, so wie Jonas sie schildert, tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich von Seiten der Polizei nicht rekonstruieren. Man habe im System keinen entsprechenden Sachverhalt finden können, heißt es auf eine Anfrage der taz und des Stadtmagazins kreuzer. Zugleich weist die Leipziger Polizei darauf hin, dass Kontrollen, bei denen keine Straftaten festgestellt wurden, „nicht zwingend schriftlich dokumentiert“ werden müssen. Ausschließen lässt sich die mögliche Kontrolle also auch nicht. Die Frage, ob im Leipziger Süden ein „gefährlicher Ort“ ausgewiesen ist, beantwortet die Polizei nicht.
Keine Auskunft im Innenministerium
Auch das sächsische Innenministerium kann keine Auskunft geben. Im Ministerium seien die einzelnen „gefährlichen Orten“ nicht bekannt, da die Polizeidirektionen diese selbst definierten, sagt ein Sprecher. Der Tenor auf die Nachfrage, ob tatsächlich die örtliche Polizei selbst entscheidet, wo sie verdachtsunabhängig kontrollieren darf, ist eindeutig: „Ja, wer denn sonst?“ Diese sei deutlich besser qualifiziert, die Lage vor Ort einzuschätzen, als es aus der Landeshauptstadt Dresden möglich sei, schildert der Sprecher. Zudem könne sich die Situation an einem Ort sehr schnell verändern, worauf die Polizei entsprechend reagieren müsse.
Bisher war in der öffentlichen Wahrnehmung völlig untergegangen, dass die erweiterten Befugnisse der sächsischen Polizei nicht durch eine übergeordnete Instanz kontrolliert werden. „Das Konstrukt der ‚gefährlichen Orte‘ unterläuft die Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats“, kritisiert nun die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linkspartei). Sie nennt die entsprechende Regelung ein „Paradebeispiel für polizeiliche Willkür“, über das endlich eine breite kritische Diskussion beginnen müsse.
„Das ist ein Zustand, der in einem Rechtsstaat nicht sein darf“, sagt auch der Grünen-Abgeordnete Valentin Lippmann. Er verweist darauf, dass die Polizei in Sachsen diese Regelung, die bereits seit 1999 existiert, erst seit etwa zwei Jahren in größerem Maße zu nutzen scheine. Möglicherweise sei das Thema deshalb zuvor nicht beachtet worden.
Keine Kontrolle, keine Fakten
Er kritisiert nicht nur, dass die Einrichtung „gefährlicher Orte“ keiner Kontrolle unterliege – sondern auch, dass sich die Polizei dabei nicht allein auf belegbare Fakten stütze. Der Frankfurter Allgemeinen teilte das Innenministerium im letzten Sommer zwar mit, die Orte würden anhand von häufig vorkommenden Straftaten wie Diebstahl oder Drogenhandel eingestuft und die Einstufung jährlich überprüft.
Als Antwort auf eine Landtagsanfrage Lippmanns schrieb die Landesregierung allerdings, die Klassifizierung sei ein „hoch dynamischer Prozess“, weshalb Polizeibeamte unter anderem in „täglichen Lagebesprechungen“ über die Existenz von „gefährlichen Orten“ informiert würden. „Ebenso besteht dazu keine Berichtspflicht“, hieß es abschließend.
Auch der Innenausschuss des Landtags beschäftigte sich im Herbst in einer nicht-öffentlichen Sitzung mit dem Thema. Der damalige Landespolizeipräsident Jürgen Georgie sollte über das Pilotprojekt zum Einsatz von Bodycams in Sachsen informieren. Aktuell werden die Körperkameras an verschiedenen als gefährlich deklarierten Orten im Freistaat getestet.
Beamte entscheiden nach Gefühl
Laut Protokoll, das der taz vorliegt, hat Georgie dem Ausschuss Grundlagen für die Kategorisierung als „gefährlicher Ort“ vorgetragen – und indirekt deutlich gemacht, wie schwammig die Kriterien sind, mit denen die Polizei ihr eigenes Handeln begründet: Neben einer objektiv überprüfbaren Grundlage wie der Kriminalstatistik sollen auch subjektive Erfahrungen und Wahrnehmungen der Beamten entscheidend sein. Im Gegensatz dazu müssten für den Einsatz von präventiver Videoüberwachung nicht nur Erfahrungen, sondern auch „tatsächliche Anhaltspunkte“ vorliegen.
Für verdachtsunabhängige Kontrollen heißt das: Anders als in nahezu allen anderen Bundesländern, wo im entsprechenden Gesetzesabschnitt wörtlich „Tatsachen“ oder „tatsächliche Anhaltspunkte“ als erforderliche Grundlage für die polizeiliche Einschätzung genannt werden, braucht es diese in Sachsen nicht. Lediglich in Baden-Württemberg hat die Polizei laut Gesetz ähnliche Freiheiten wie in Sachsen.
Auch dort scheint die Umsetzung intransparent. 2017 beschwerte sich dort die Piratenpartei, dass Teilnehmer einer Konferenz in Stuttgart vor dem Gebäude mit der Begründung „Gefahrengebiet“ kontrolliert worden seien. Die örtliche Polizei antwortete damals schriftlich, „bisher sind in Stuttgart keine Orte im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG definiert“.
Überprüfung unmöglich
Nach aktuellem Stand scheint es also nahezu unmöglich, Klarheit darüber zu bekommen, ob eine polizeiliche Durchsuchung, wie Jonas F. sie geschildert hat, rechtmäßig ist oder war. „Weder die Betroffenen selbst noch ich als demokratisch gewählte Abgeordnete können die Voraussetzungen zur Einstufung als ‚gefährlicher Ort‘ überprüfen oder hinterfragen“, kritisiert daher die Abgeordnete Juliane Nagel.
Valentin Lippmann sieht ein Grundproblem zudem darin, dass „Gefahrengebiete“ durch die Polizei laufend neu definiert werden können und zudem keine Berichtspflicht darüber besteht. Ob man sich tatsächlich an einem „gefährlichen Ort“ befindet, lässt sich im Fall einer Kontrolle kaum überprüfen. Werden Kontrollen zudem nicht dokumentiert, wird diese Frage auch im Nachhinein nur schwer zu klären sein. Lippmanns Fazit zu der Regelung über „gefährliche Orte“ ist entsprechend eindeutig: „Das braucht keiner. Das kann weg.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient