Gedenkstätten-Leiterin über Claudia Roth: „Man muss behutsam vorgehen“
Elke Gryglewski, Leiterin einer KZ-Gedenkstätte, kritisiert Claudia Roths Ideen zur Erinnerungspolitik. Deren Paradigmenwechsel sei kontraproduktiv.
Als Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) im Februar den Entwurf eines „Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ veröffentlichte, schlugen die Gedenkstätten in Deutschland Alarm. Der Entwurf leite einen „geschichtspolitischen Paradigmenwechsel“ ein, hieß es in einem Brief, den die Dachverbände der Gedenkstätten und Erinnerungsorte der NS- wie SED-Zeit unterschrieben und ans Bundeskulturministerium (BKM) schickten. Roth hatte in ihrem Entwurf die Erweiterung der Erinnerungskultur um die Felder Kolonialismus, Migrations- und Demokratiegeschichte in den Raum gestellt. Die Befürchtung der Gedenkstätten: Nationalsozialistische Verbrechen drohten relativiert, SED-Unrecht bagatellisiert zu werden.
ist Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Zuvor arbeitete sie als stellvertretende Direktorin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
taz: Frau Gryglewski, warum reagierten die Gedenkstätten so einhellig auf den Entwurf aus dem Haus der Kulturstaatsministerin?
Elke Gryglewski: Unsere Kritik entzündete sich vor allem daran, dass dieser Entwurf kein Entwurf für eine Konzeption, ein Programm ist. Die Gedenkstättenkonzeption hat bis dato immer eine Analyse der Situation der Gedenkstätten beinhaltet und Herausforderungen benannt. Dieses Rahmenkonzept jetzt war eher eine Wunschliste, was man normativ machen wollte. Aber wir finden alle jetzt sehr produktiv, dass die Gedenkstätten mit dem BKM noch mal ins Gespräch gehen.
Geplant war, das Gedenken an NS-Diktatur und SED-Zeit um die Säulen Migrationsgeschichte, Demokratiegeschichte und Kolonialismus zu erweitern. Was ist daran falsch?
Für meine Begriffe gehen zwei dieser Säulen bereits in den Komplexen NS- und SED-Diktatur auf. Die Migrationsgeschichte ist definitiv ein Querschnittthema. Demokratiegeschichte im Grunde genommen auch, da diese in den Gedenkstätten behandelt wird. Was ich durchaus für sinnvoll erachte, ist, dass das Thema Kolonialismus aufgenommen wird.
Die deutsche Kolonialgeschichte prominenter in die Erinnerungskultur einzubinden, wird schon seit einigen Jahren gefordert. Im Mittelpunkt des sogenannten Historikerstreits 2.0 steht die Frage, ob die Fokussierung auf den Holocaust die Auseinandersetzung mit den Kolonialverbrechen erschwert. Wie sehen Sie das?
Ich halte es für sinnvoll, wenn man sich über Kontinuitätslinien unterhält. Die NS-Zeit beginnt ideologisch gesehen nicht 1939. Gleichzeitig ist es falsch, eine Linie ziehen zu wollen, die vom Genozid an den Herero und Nama direkt nach Auschwitz führt. Gerade was rassistisches Denken angeht, gibt es aber Verflechtungen. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat zum Beispiel ein sehr gutes Projekt entwickelt, was das Verhältnis von Kolonialrassismus, Antisemitismus und Antislawismus im Nationalsozialismus in den Blick nimmt. Ohne falsche Parallelen zu ziehen oder das eine mit dem anderen gleichzusetzen. Ein anderes Beispiel: In diesem Jahr soll in Berlin eine Gedenkstätte am Sitz der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der Freien Universität eröffnen.
Dort wurde von 1927 bis zum Ende der NS-Zeit zu Eugenik geforscht und „Rassenforschung“ betrieben.
Ja. Jemand wie Josef Mengele hat dort gelernt. So einen Ort halte ich für sehr sinnvoll: Beziehungsgeflechte aufzeigen, ohne in historische Falschheiten zu verfallen.
Orte mit doppelten Bedeutungen gäbe es einige, etwa die Potsdamer Garnisonkirche, wo 1933 der erste Reichstag der Nazis stattfand. In der Kaiserzeit riefen die Pfarrer der Kirche dazu auf, an den Kolonialkriegen teilzunehmen. Wie kann es gelingen, am selben Ort an verschiedenste geschichtliche Epochen zu erinnern?
Einfach so alle Geschichten an einem Ort zu erzählen, ist kontraproduktiv. Wenn wir in Bergen-Belsen versuchen wollten, Antisemitismus in all seinen Ursprüngen zu erklären, wäre das für die Besucher nur verwirrend. Das ist auch nicht die Aufgabe der Gedenkstätten. Anders verhält es sich mit pädagogischem Material oder Sonderausstellungen. Man muss behutsam vorgehen und weitergehende Themenkomplexe nicht losgelöst vom Kern der Geschichte des Ortes behandeln.
Den Gedenkstätten ist es wichtig, sich erinnerungspolitisch auf staatlich verübte Verbrechen zu konzentrieren. Warum?
Weil dabei der Staat als Staat Verantwortung übernehmen muss. Bei von Terrororganisationen verübten Morden ist die Auseinandersetzung eine völlig andere. Für die Hinterbliebenen der vom NSU Ermordeten etwa ist es natürlich wichtig, Orte zu haben, wo sie sich erinnern oder gedenken können. Ich bin der Meinung, dass die Geschichte des Rechtsterrorismus aber nicht losgelöst erzählt werden kann von den Gedenkstätten. Bei Rechtsextremen ist Schuldabwehr ein wichtiges Thema, die Glorifizierung von Hitler. Rechtsterrorismus fängt nicht mit dem NSU an. Beispielsweise hat schon in den 70er Jahren der Neonazi Michael Kühnen versucht, in Bergen-Belsen einen Anschlag zu verüben. Sich in den Gedenkstätten mit Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, ist also total sinnvoll. Nur, das ist nicht gemeint, wenn von Erinnerungskultur zu Rechtsterrorismus gesprochen wird.
Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Jens-Christian Wagner hat mehrfach die Sorge geäußert, dass ein möglicher Wahlerfolg der AfD in Thüringen seine Arbeit massiv beeinflussen würde. Wie sehen Sie das in Niedersachsen?
Am 20. April findet in Unterlüß der Landesparteitag der AfD Niedersachsen statt. Wir als Stiftung haben offiziell zur Teilnahme an der Demo dagegen aufgerufen, weil die AfD die Partei ist, die unsere Arbeit hinterfragt. Die Gedenkstätten haben heute schon unter rechtsextremen Anschlägen zu leiden. In den letzten Wochen haben wir in Bergen-Belsen erstaunlich viele anonyme Anrufer gehabt, die den Holocaust leugneten, antisemitische Äußerungen tätigten oder „Arbeit macht frei“ in den Hörer schrien. Im letzten Jahr gab es einen direkten Anschlag auf den Sitz der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Das Thema tangiert uns, es tangiert uns natürlich auf andere Art und Weise als die Angehörigen der Opfer des NSU. Aber ich halte es für nicht sinnvoll, diese Geschichten losgelöst voneinander zu bearbeiten. Natürlich macht es keinen Sinn, etwa den NSU direkt in unseren Ausstellungen zu thematisieren, weil wir ohnehin merken, dass das Wissen um die Geschichte immer lückenhafter wird. Aber wir bieten Fortbildungen an, etwa zu Stammtischparolen. Das tun viele Gedenkstätten.
Workshops zu Stammtischparolen erreichen eine bestimmte Altersgruppe. Wie bringen sie Schüler:innen den Nationalsozialismus nahe, deren Großeltern die NS-Zeit schon nicht mehr miterlebt haben?
Die Zeit der Konzentrationslager ist für Jugendliche emotional genauso weit entfernt wie die Französische Revolution oder die Nürnberger Prozesse, so ist meine Erfahrung. Aber wenn sie anfangen, sich damit auseinanderzusetzen, erleben wir, dass sie dann auch sehen: So weit weg ist das nicht. Die Geschichte hat nicht 1945 geendet, sondern da gibt’s viele Längsschnitte bis in die Gegenwart.
Und das alles vor dem Hintergrund, trotzdem die Singularität des Holocausts herauszustellen.
Natürlich, das ist die Herausforderung.
Können und wollen Sie als Gedenkstätte auf den zunehmenden Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts reagieren?
Nach dem 7. Oktober haben wir vermehrt antisemitische Zuschriften bekommen. In unserer Bildungsabteilung wurde lange diskutiert darüber, ob und wie wir unsere Bildungsangebote verändern müssen. Wir sind insofern vom Nahostkonflikt betroffen, als dass in Israel noch viele Überlebende und ihre Nachkommen leben, mit denen wir im Kontakt stehen. Zudem besuchen uns täglich Schulklassen mit Kindern, die jüdisch sind oder Angehörige im Gazastreifen haben. An diesen Stellen geht es oft um Haltung. Ich kann in einer Bildungsveranstaltung einem Kind, das emotional betroffen ist, Empathie entgegenbringen, ohne dass ich eine Stellungnahme zum Nahostkonflikt abgeben muss. Das ist nicht die Aufgabe der Gedenkstätten.
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