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Gedenken in Frankreich„Charlie Hebdo“ zum ersten Jahrestag

Der neue Titel des Satiremagazins sorgt für Furore, eine Gedenktafel wird am Tatort enthüllt und eine Witwe stellt Strafanzeige gegen die Behörden.

Da neue Heft zum Jahrestag: ein mörderischer Gott, der immer noch frei herum läuft. Foto: reuters

Paris taz | Ein Jahr nach dem terroristischen Anschlag auf das Satireblatt Charlie Hebdo, in dessen Verlauf zwölf Menschen getötet wurden, hat die Familie eines der Opfer gegen die Antiterrorbehörden Klage wegen fahrlässiger Tötung eingereicht. Laut der Witwe des erschossenen Polizisten Franck Brinsolaro, der als Leibwächter des Charlie Hebdo-Chefredakteurs Charb im Einsatz war, habe ihr Mann seine Vorgesetzten in einem Bericht ausdrücklich auf die Bedrohung und Sicherheitsrisiken aufmerksam gemacht und eine Verstärkung des Teams verlangt.

Wenige Wochen vor dem Überfall der Redaktion habe ein Unbekannter das Haus im 11. Pariser Stadtbezirk aus einem Auto beobachtet und dann Leute gefragt, ob das die richtige Adresse sei, und ob dort die Zeitung sei, die „den Propheten kritisiert“. Die Adresse von Charlie Hebdo war allerdings nicht geheim, sie stand im Telefonbuch.

Ingrid Brinsolaro, Redakteurin der Zeitung L’Eveil Normand, weiß auch, dass Charb (Stéphane Charbonnier) aus Holland die Information erhalten hatte, dass er zusammen mit Salman Rushdie vom Al-Qaida-Propagandaheft Inspire auf eine Liste von elf zu ermordenden Gegnern gestellt worden war. Alle mehr als begründeten Warnungen seien aber nicht beachtet worden. Aufgrund ihrer Klage erwartet die Witwe des getöteten Leibwächters von der französischen Justiz eine Erklärung dafür, dass ihr Mann „nicht über die nötigen Mittel verfügte, um sich und die Personen zu verteidigen, mit deren Schutz er beauftragt war“.

Der Jahrestag der Attentate gegen Charlie Hebdo und das jüdische Geschäft Hyper Casher ist aber auch Anlass verschiedener Gedenkanlässe. Am Dienstag hat Staatspräsident François Hollande an der Seite der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude und den anderen Orten des Geschehens Gedenktafeln mit den Namen der Terroropfer eingeweiht. Am Sonntag ist ein Konzert auf der Place de la République geplant.

Charlie Hebdo bringt ein Sonderheft in einer Großauflage von einer Million heraus, dessen religionskritische Texte und Karikaturen bereits vor dem Erscheinen im Internet neuerliche Polemik auslösen. Besser könnte Charlie Hebdo nicht beweisen, dass der unerschrockene Geist der Provokation trotz der terroristischen Einschüchterungsversuche so lebendig ist wie vor dem 7. Januar 2015.

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4 Kommentare

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  • Das auf dem Titelbild verwendete "Auge Gottes" begegnet sowohl im Christentum als auch im Judentum. Den in dem koscheren Supermarkt getöteten Menschen war Religion wichtig, sonst hätten sie nicht dort eingekauft. Nun verhöhnt der Zeichner die jüdischen Opfer der Anschläge und ihre Familien, indem er dem Glauben der Opfer die Schuld an den Verbrechen zuweist. Das finde ich hässlich und verschafft mir keinen Erkenntnisgewinn, denn Menschen und nicht Gott sind und bleiben verantwortlich für die schrecklichen Taten.

  • Der Jahrestag des Massakers sollte auch Anlaß sein, an das usurpierte Entsetzen zu erinnern, bei dem alle riefen: „Je suis Charlie“. Die Toten konnten sich gegen diese postume Umarmung nicht mehr wehren. Angesichts der gigantischen ökumenischen Union sacrée der Solidarität rieben sich allerdings einige der überlebenden Journalisten und Zeichner von „Charlie-Hebdo“ verwundert die Augen. Gérard Biard hörte förmlich die Glocken von Notre-Dame für „Charlie“ läuten, ausgerechnet für „Charlie“, das antiklerikale Blatt par excellence. Mehrere der überlebenden Redaktionsmitglieder registrieren nicht ohne Bitterkeit diese Zeichen der Solidarität mit einem Blatt, dem noch wenige Tage zuvor wenig Sympathie zuteil wurde, so die Redakteurin Zineb Rhazoui gegenüber „Le Monde“: „Ich wäre froh gewesen, die Toten hätten zu ihren Lebzeiten eine solche Unterstützung erfahren. ,Charlie Hebdo‘ wurde von allen nur immer niedergeschrieen. Drohungen gab es andauernd, und man warf uns sogar vor, sie bewußt zu suchen.“ Andere wie Laurent Léger sind dem Massengedenkmarsch ostentativ ferngeblieben. Der Zeichner LUZ, der das Attentat verletzt überlebte, ließ auf dem Portal „Les Inrocks“ verlauten: „Die geballte symbolische Ladung, die gerade losgeht, verkörpert all das, wogegen „Charlie“ immer aufgetreten ist.“ Es sei wunderbar, von diesen Leuten unterstützt zu werden, aber das bewege sich alles genau in die Gegenrichtung dessen, wofür die Zeichnungen von „Charlie“ stünden. „Diese Einstimmigkeit ist nützlich für Hollande, um die Nation zu einigen. Sie ist nützlich für Le Pen, um die Todesstrafe zu fordern. Man spricht vom Andenken an Charb, Tignous, Cabus, Honoré, Wolinski: Sie hätten drauf geschissen.“ Die schärfsten Worte hatte der niederländische Zeichner Willem (Bernard Holtrop) in „Le Point“ nach der Unterstützung durch den Führer der niederländischen rechtsextremen Geert Wilders gefunden: „Wir kotzen auf all diese Leute, denen plötzlich einfällt, sie seien unsere Freunde.“

    • @Reinhardt Gutsche:

      Na Ja: andere Meinung zu sein und die scharf kritisieren war völlig in Ordnung. Das kann kein Problem darstellen.

      Aber umbringen?

      Wo ich Ihnen völlig Recht gebe, ist wenn nur aus politische "Punkten" eine Solidarität vorgegaukelt worden ist - und das passt sicherlich zu Wilders.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Noch nicht mal mehr der Tod bringt Versöhnung. Wofür das ganze dann eigentlich???