Geburtshelfer gegen Hebammenmangel: Der Mann im Kreißsaal

Tobias Richter ist einer der wenigen männlichen Hebammen in Deutschland. Können Männer den Hebammenmangel lösen?

Geburtshelfer mit Baby im Arm

„Ich würde immer wieder Hebamme werden“, sagt Tobias Richter Foto: Klinikum Buch

BERLIN taz | Er hatte mit einem Weihnachtsbaby gerechnet. Aber am Heiligen Abend kam kein Kind zur Welt, zumindest nicht im Helios-Klinikum in Berlin-Buch. Tobias Richter und seine Kolleginnen in der Einrichtung mit über 1.000 Betten am Stadtrand hatten einen ruhigen Abend.

Erst in den Tagen nach Weihnachten sagte der große blonde Mann zu einer Frau im Kreißsaal Sätze wie: „Jetzt pressen.“ „Und noch mal.“ Wenig später legte er der jungen Mutter das Neugeborene auf die Brust. Tobias Richter ist Hebamme. Ja, richtig gelesen, Hebamme. Genauso möchte er auch genannt werden. Und nicht, wie man das bei Männern in der Geburtshilfe gewohnt ist, Entbindungspfleger.

Im Kreißsaal, im Geburtshaus oder bei Hausgeburten haben Frauen das Sagen, als Gebärende und als Hebammen. Männer im Kreißsaal kommen in der Regel als Partner vor, die bei der Geburt ihres Kindes dabei sein wollen. Oder als Ärzte, die Entbindungen vor allem medizinisch überwachen.

Aber jetzt ist da auch Tobias Richter, 21, schwarze Brille, grünes T-Shirt mit der Aufschrift „Gender“. Er ist einer von zwei männlichen Hebammen in der Bucher Klinik. Die beiden jungen Männer sind so etwas wie Exoten. Dabei möchte Richter genau das auf gar keinen Fall sein. Er sagt: „Ich mache einfach meinen Job.“

Der erste Mann an der Hebammenschule überhaupt

Dennoch: Männliche Hebam­men sind in Deutschland eine ziemliche Seltenheit. Der Deutsche Hebammenverband (DHV) spricht von 6 männlichen Hebammen in der gesamten Republik, Richter hingegen weiß von etwa 35. Einige von ihnen kennt er. Einer arbeitet in Hannover, ein weiterer in Dresden, der nächste im bayerischen Ansbach. Sie lernen – neben den vielen Frauen – an Hebammenschulen, die es in jedem Bundesland gibt.

Richter war drei Jahre an einer Hebammenschule in Erfurt in Thüringen, dort war er der erste Mann überhaupt. Sowohl die Ausbilder*innen als auch die Auszubildenden waren am ersten „Schultag“ reichlich irritiert: Wie, ein Mann? „Wir haben uns aber schnell aneinander gewöhnt“, sagt Richter.

Dass das anders laufen könnte mit dem jungen Mann, ist schwer vorstellbar. Richter muss man sich als zugewandten, offenen, sensiblen Menschen vorstellen, der seine Worte mit Bedacht wählt und leise spricht. Der vorsichtig gestikuliert und seine Hände gern zusammengefaltet in den Schoß legt. Der sagt: „Das Zwischenmenschliche ist wichtig.“ Was wie ein abgedroschener Satz klingt, ist im Kreißsaal notwendig.

In den Stunden, in denen eine Frau die größten Schmerzen erlebt, ist sie der Hebamme und den Ärzten, die bei einer Geburt dabei sein können, vollkommen ausgeliefert. Da ist es wichtig, der Hebamme vertrauen zu können, eben auch einer männlichen. „Die Chemie muss stimmen“, sagt Richter.

Fachgespräche zwischen Mutter und Sohn

Mittlerweile hat Richter über 200 Babys auf die Welt geholfen. Zählt man jene Entbindungen dazu, die er im Praktikum und in der Ausbildung begleitet hatte, sind es fast doppelt so viele. An manchen Tagen betreut er im Klinikum Buch zwei oder drei Geburten, an anderen Tagen keine.

Etwa 3.000 Entbindungen zählt die Klinik jedes Jahr, in den vergangenen Wochen wurden unter anderem Sophia, Emil, Cara, Fritz, Ida, Leo, Jim, Ida geboren. Die Namen stehen auf einer Storchentafel, die prominent am Haupteingang des Klinikums postiert ist, so dass man fast darüber stolpert.

Tobias Richter und die Geburtshilfe, das ist eine Geschichte wie aus einem Bilderbuch für die Hebammenausbildung. Schon seine Mutter war Hebamme, bereits als kleiner Junge wusste Richter, wie es in einem Kreißsaal aussieht, wie Geburten ablaufen, was Hebammen dabei tun können und müssen.

Noch heute sprechen Mutter und Sohn, wenn sie sich treffen oder miteinander telefonieren, viel über Spontangeburten, Wassergeburten, Massage für Schwangere, Stimmungen im Kreißsaal. Sie geben sich gegenseitig Tipps und „werten“ Entbindungen aus. „Ich würde immer wieder Hebamme werden“, sagt Richter.

Obwohl es nicht nur schöne Momente im Kreißsaal und um die Geburtstermine herum gibt. Er macht auch Vor- und Nachsorge, gibt Geburtsvorbereitungskurse. „Hebamme zu sein bedeutet nicht, immer nur Kinder zu knuddeln“, sagt er.

Unterirdische Arbeitsbedingungen

Er arbeitet im Dreischichtsystem, manchmal müssen er und seine Kolleginnen zwischen den Kreißsälen hin und her flitzen und mehrere Geburten gleichzeitig betreuen. Der Job ist bekanntermaßen unterbezahlt, in manchen Kliniken in der Republik sind die Arbeitsbedingungen unterirdisch.

Und dann sind da auch noch werdende Eltern mit mitunter überzogenen Ansprüchen, Forderungen, einem unangemessenen Umgangston. An Vorurteile und Sätze wie „Der will sich doch nur an die Frau ranschmeißen“ oder „Ein Mann kann keine Kinder kriegen, also hat er auch kein Verständnis für eine Geburt“ hat sich Richter gewöhnt. Schön ist es trotzdem nicht, er sagt: „Hebammen, egal ob weiblich oder männlich, wollen alle dasselbe: dass es Mutter und Kind gut geht.“

In Buch ist mittlerweile bekannt, dass im Kreißsaal dort zwei Männer Kindern auf die Welt helfen. Außerdem hängt im langen, weiten Krankenhausflur ein großes Poster mit Richters Gesicht, es ist eine Imagekampagne für das medizinische Angebot der Klinik. Die meisten Schwangeren, die hierherkommen, dürften also darauf gefasst sein, Richter im Kreißsaal zu begegnen.

„Die meisten sind damit einverstanden, dass ich die Geburt betreue“, sagt Richter: „Es macht für sie keinen Unterschied, ob die Hebamme eine Frau oder ein Mann ist.“ In der Gynäkologie bestehen Patientinnen mittlerweile auch selten darauf, ausschließlich von Ärztinnen behandelt zu werden. Manchmal gibt es im Bucher Klinikum aber doch Paare, die sagen: „Wir wollen was ‚Normales‘, wir wollen eine Frau im Kreißsaal.“

Richter und all die anderen männlichen Hebammen werfen ein Schlaglicht auf die zunehmende Auflösung klassischer Rollenklischees: Ein bislang typischer Frauenberuf öffnet sich für Männer. Es war die konservative CDU-Politikerin Kristina Schröder, die 2012 als damalige Familienministerin Männerpolitik stärker in den Blick nahm und unter anderem das Programm „Männer in Kitas“ ins Leben gerufen hat. Seit 2011 gibt es den Boys’ Day, der Jungs stärker für Care- und Dienstleistungsberufe gewinnen soll.

Und jetzt sorgt erneut ein konservativer Politiker – CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn – für mehr Angleichung der Geschlechter. Das unter seiner Regie reformierte und im Januar in Kraft getretene Hebammengesetz erlaubt es Männern in der Geburtspflege, sich jetzt ebenfalls Hebamme nennen – und nicht wie bisher Entbindungspfleger.

„Die Berufsbezeichnung ‚Hebamme‘ gilt für alle Berufsangehörigen“, heißt es in dem entsprechenden Paragrafen. Das scheint logisch. „Wir machen ja genau dasselbe wie weibliche Hebammen“, sagt Richter.

Auch der Hebammenverband begrüßt mehr Männer im Kreißsaal. „Das Geschlecht sollte bei der Berufswahl keine Rolle spielen“, sagt Robert Manu, Pressereferent des DHV. „Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Versorgungslage mit Hebammenhilfe in Deutschland freuen wir uns über alle, die sich für den Beruf entscheiden.“

Geburtskliniken schließen wegen Personalmangel

Derzeit fehlen laut einer Studie des Marktforschungsinstitut Skopos überall in der Republik Hebammen. Geburtskliniken schließen, weil sie kein Personal mehr haben und finden, die Zahl der Geburten in vielen Häusern sinkt. Die Folge: Jede fünfte Schwangere sucht der Studie zufolge zwei Monate und länger nach einer Hebamme.

Jede fünfte Mutter nimmt keine Nachsorgehebamme in Anspruch, obwohl sie darauf einen gesetzlichen Anspruch hat. Die Fahrtwege in die nächste Geburtsklinik werden länger, insbesondere auf dem Land. Dort fahren Frauen, die schon in den Wehen sind, mitunter zwischen 30 und 60 Kilometer bis zur nächsten Entbindungsstation.

In einer Berliner Klinik soll es im vergangenen Jahr laut dem Berliner Tagesspiegel sogar „personalfreie“ Geburten gegeben haben: Weil nicht genug Personal da war, um Schwangere im Kreißsaal zu betreuen, blieben die Kreißenden vielfach allein. In einem Fall soll ein Mann, vermutlich der Partner der Gebärenden, bei der Geburt geholfen haben.

Als im Henriettenstift in Hannover vor zwei Jahren wegen des Hebammenmangels italienische Fachkräfte kamen, staunte man im Klinikum. Es waren nicht nur Frauen gekommen, sondern auch Melchiorre Messina. Ein Mann, der in seinem Heimatland schon viele Kinder auf die Welt gebracht hat. Messina wiederum wunderte sich über die verwunderten Deutschen. Denn in Italien gehören Männer selbstverständlich in den Kreißsaal. Behauptet er zumindest.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.