Gebrochene Herzen in Belarus: Erst verraten, dann verkauft?
Die Stimmung ist ein Jahr nach Beginn der Proteste im Keller. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 100.
A m 9. August, dem Jahrestag des Protestbeginns gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl, haben die Belaruss*innen mit ihren Kommentaren und Posts fast die sozialen Medien gesprengt. Menschen, die vor einem Jahr auf die Straße gegangen waren, erinnerten sich an das, was damals war. Und machten sie öffentlich Gedanken über die Zukunft. Es war schrecklich, diese Erinnerungen zu lesen und die Fotos anzuschauen. Heute würde man für etwas, was damals noch möglich war, vermutlich gleich verurteilt werden. Es ist traurig, auf Facebook zu sehen, wie die Freunde nach und nach den Wohnort wechseln – von Minsk nach Kiew, Vilnius oder Warschau.
Meine Freundin schreibt, dass sie durch die Konfiszierung ihres Laptops auch die Fotos ihrer Freund*innen und ihrer Reisen verloren hat. Und damit auch irgendwie ihr früheres Leben. In ihren eigenen Worten klingt das so: „Ich bin froh, dass es dieses Jahr gegeben hat. Ich hätte nicht gewollt, dass ‚stattdessen‘ lieber nichts passiert wäre oder dass alles so verlaufen wäre wie gewöhnlich. Ich hatte und habe oft große Angst und es ist sehr schmerzhaft. Aber insgesamt spüre ich tief in mir eine große Hoffnung. Ich bin überzeugt davon, dass das alles zu Ende geht und bessere Zeiten kommen werden. Ich versuche, auf mich selbst aufzupassen, um nicht emotional auszubrennen. Manchmal gelingt es. Wohlgemerkt: manchmal.
![](https://taz.de/picture/4371510/14/26001150-1.jpeg)
Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.
Ich bin sehr stolz auf meine Freund*innen und Mitbürger*inenn. Zum ersten Mal habe ich wirklich begriffen, dass ich nicht alleine bin. Zum ersten Mal habe ich die Belaruss*innen wirklich wahrgenommen und an sie geglaubt. Ich habe verstanden, dass alles, was ich persönlich getan habe, trotz allem nicht vergebens war. Das sind die besten Erinnerungen und sie helfen mir, wenn ich an allem zweifle. Ich habe viel Liebe in mir. Mehr als Wut und Hass. Letztere verwandeln sich eher in Ekel und Gleichgültigkeit. Aber ich ‚vergesse nicht und vergebe nicht‘.“
ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.
Ein anderer Freund schreibt mir: „Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, was du persönlich in diesem Jahr erlebt hast, dann scheint es so, als sei aus einem Traum ein Alptraum geworden, der Wahnzustand eines Irrsinnigen. Die ersten sechs Monaten waren eine unglaublich emotionale Schaukelei: jeder sonntägliche Protestmarsch brachte ein irres emotionales Hoch, jeder darauffolgende Montag die Katerstimmung. Und jetzt bist du der genau der Überlebende, mit gebrochenem Herzen und einem Haufen Freunde hinter Gittern, der versucht herauszufinden, wie man das Loch in der Brust wieder flickt. Und klammerst dich dabei an deine eigenen Erinnerungen. Es gab Augenblicke, in denen du dachtest, das sei jetzt das Ende, noch mehr geht einfach nicht. Ja, das Regime wird sicher nicht weiter leben, aber wie qualvoll und blutig es stirbt! “
Und noch ein Gedanke: „Das Wendepunktdatum 9.8.2020. Das Wendejahr. Wie sich mein ‚Ich‘ geändert hat! Wie es zum ‚Wir‘ geworden ist! Wie ‚wir‘ uns selbst verstehen und zu den Ursprüngen zurückkehren. Wir – die Nation. Nicht nur ein Ort auf der Weltkarte. Wir – Belaruss*innen. Und jetzt kennt uns die ganze Welt als eigene Nation. Das ist ein unglaublicher Entwicklungssprung. In nur einem Jahr. Der Weg, der vor uns liegt, ist noch lang. Und schmerzhaft. Aber er ist endlich.“
Ein Mann, der gezwungen war, Belarus zu verlassen, schreibt: „Das Böse ballt sich zusammen. Das spüren wir alle sehr stark. Was können wir dem entgegensetzen? Zusammenhalt und Offenheit!!!❤️ SICH ZUSAMMENSCHLIESSEN UND DIE WAHRHEIT AUSSRPECHEN! Belaruss*innen sind eine der Völkerfamilien, die auf dieser Erde leben, daher ist es unsere Pflicht, uns gegenseitig zu helfen, wo immer wir sind, in jedem Land, wie in einer guten Familie.
Das Leben fordert uns dazu auf, uns zusammenzuschließen, nicht nur zum Schutz unseres eigenen Lebens, sondern im Namen der Gerechtigkeit, für die wir genötigt waren, in andere Länder zu flüchten. Es ist für uns lebensnotwendig einander zu kennen, uns zu treffen, Aktionen und Veranstaltungen zu organisieren, über unseren Schmerz zu sprechen, über den blühenden Faschismus in der Heimat, in Belarus, über den dort niemand mehr laute sprechen kann, ohne Gefahr zu laufen, dafür in den Knast zu kommen.“
Aber es gibt auch, die sagen: „ Es ist, als sei ich gestürzt und in ein Loch gefallen. Und was unten kommt, wird die Zeit zeigen.“
Und tatsächlich: die Zeit wird zeigen, ob wir überleben oder ob es uns das Herz zerreißt. Und ob ein Land namens Belarus von der Landkarte verschwindet.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!