Rentner in Belarus: Man möchte sie umarmen

Auch die Alten, bisher eine Stütze von Alexander Lukaschenko, gehen auf die Straße. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 23.

Ältere Frauen bei einer Demonstration.

Generation 60+ am 12. Oktober auf der Straße in Minsk Foto: reuters

Am vergangenen Montag gingen in Minsk und anderen Regionen altehrwürdige Leute zu einem Protestmarsch auf die Straße. Das hat erst vor kurzem begonnen, vor zwei Monaten gab es so etwas noch nicht. Rentner sind traditionell der konservativste Teil der Gesellschaft. Sie sind die Stütze eines jeden politischen Modells, von der Autokratie bis hin zu der wettbewerbsfähigsten liberalen Demokratie.

Je älter Menschen werden, desto mehr neigen sie dem Status Quo zu. Übersetzt in unserer Realität bedeutet das: die Führung wird unterstützt – einfach, weil sie die Führung ist. Die Hauptsache jedoch ist: Sie gehen wählen. Die Jugend geht demonstrieren, die älteren Menschen gehen an die Urnen. Das ist eine soziale Tatsache.

Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.

In den postsowjetischen Ländern wird diese Gegebenheit noch dadurch verstärkt, dass die Generation, die älter als 60 Jahre ist, von der sowjetischen Tradition geprägt ist. Das ist die Generation, die im reifen Alter dramatische Veränderungen erlebt hat und deren Lebensweise sich radikal verändert hat. Der Großteil dieser Menschen fühlt sich als Verlierer dieser Veränderungen und ist einer sowjetischen Nostalgie verhaftet, als deren führender Vertreter sich Lukaschenko gerne geriert.

Heute jedoch protestiert genau der Teil der Gesellschaft, der 1994 für Lukaschenko gestimmt hat. Und die Menschen rufen: „Hau ab!“ und „So etwas wird unseren Enkeln nicht mehr passieren!“ Sie laufen die zentrale Alle in der Hauptstadt fünf Kilometer entlang – in diesem Alter und bei Regen ist das nicht so einfach. Sie sind berührend, schön und man möchte sie am liebsten umarmen.

Wir hatten vergeblich geglaubt, dass der Protest der Rentner nicht auseinander getrieben werden würde. Einfach, weil sie nicht weglaufen können. Alte zu schlagen ist doch nicht möglich, sogar die zusammen getrommelten Bestrafer würden so etwas nicht tun. Ungefähr drei Stunden lang – solange dauerte der Marsch – war es in der Stadt ruhig. Doch dann beschlossen die Sicherheitskräfte, die Rentner auseinander zu treiben. Gegen Großmütter und Großväter begannen sie Tränengas und Blendgranaten einzusetzen. Diesen Umstand zu kommentieren, dafür fehlen mir die Worte.

In den sozialen Netzwerken wurden die Menschen sehr schnell aktiv und boten ihre Hilfe an, um die Protestierenden mit ihrem eigenen Auto oder einem Taxi abzuholen. Denn die Staatsmacht hatte die Metro zum wiederholten Male geschlossen. Solch eine Unterstützung ist unbezahlbar. Genauso wie eine andere Tatsache: Die Kundgebung der Rentner zeigt, dass es kein Zurück mehr gibt. Ein Wechsel rückt immer näher. Die Gesellschaft darf nicht schwächeln und ihren Druck nicht verringern.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.