piwik no script img

Gebietsgewinne in der Region CharkiwFest in ukrainischer Hand

Isjum ist eine der Städte, die zuletzt befreit wurden. Das ukrainische Selbstbewusstsein steigt, doch der Schrecken nimmt kein Ende.

Der ukrainische Präsident besucht die befreite Kleinstadt Isjum am 14.09.2022 Foto: Ukrainian presidential press-service/afp

Langsam zieht ein ukrainischer Soldat die blau-gelbe Nationalflagge am Fahnenmast nach oben. Der Hintergrund ist gespenstisch: ein mehrstöckiges Haus mit schwarzen Rußflecken und gähnenden Fensteröffnungen, in denen mal, in friedlicheren Zeiten, Fensterglas die Einwohner vor den Unbilden der Natur geschützt hatte.

Während die ukrainische Nationalhymne erklingt, halten sich wenige Meter weiter Präsident Wolodimir Selenski und Andrij Jermak, Chef der Präsidialadministration, die Hand auf das Herz. Der Ort heißt Isjum, und die Präsenz des Präsidenten heißt vor allem eins: die Kleinstadt Isjum im Gebiet Charkiw, noch vor wenigen Tagen von den russischen Truppen besetzt, ist fest in ukrainischer Hand.

Angesichts der jüngsten Gebietsgewinne im Gebiet Charkiw wächst die Zuversicht, die Besatzer vertreiben zu können, steigt das ukrainische Selbstbewusstsein.

„Der Mythos von der Unbesiegbarkeit der russischen Armee ist in der ganzen Welt gebrochen worden, was einen völligen Perspektivwechsel hin zu einer Kiew-zentrierten Sichtweise bedeutet“, freut sich Alexej Arestovich, Berater des Chefs der Präsidialadministration, auf gordonua.com. Nun sähen sich auch Skeptiker gezwungen, die Situation neu zu bewerten. Bald werde die Ukraine „der wichtigste Sicherheitsgeber in Osteuropa sein“. Doch angesichts zahlreicher Berichte über grausame Menschenrechtsverletzungen in den ehemals von Russland besetzten Gebieten gibt es für Freude über die Rückeroberungen kein Platz.

Berichte über Folter

„Butscha ist überall in der Ukraine, wo gekämpft wird“, zitiert der Telegram-Kanal „Trucha“ Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministers. „Mehr als tausend Menschen sind durch den Beschuss in der Region Charkiw gestorben. Was schmerzt mehr – bei einer Schießerei auf der Straße in Butscha zu sterben, wenn ein Panzer auf einen fahrradfahrenden Großvater schießt, oder durch russische Raketen, die auf die Bewohner von Charkiw niederprasseln?“ Und der ukrainische Dienst von BBC berichtet von Interviews mit Bewohnern ehemals russisch besetzter Ortschaften, die Folterungen und Morde durch russische Soldaten bezeugen.

So berichtet ein Zeuge mit dem Namen Artjom gegenüber dem BBC aus der Stadt Balaklija in der Region Charkiw, dass er mehr als 40 Tage Gefangener der Russen war und auch mit Elektroschocks gefoltert worden sei. Balaklija war bis zum 8. September besetzt. Die Russen hätten extra während der Folterungen das laute Belüftungssystem ausgeschaltet, damit in den benachbarten Zellen zu hören sei, wie andere Gefangene vor Schmerz und Angst schrien. Auch Frauen seien gefoltert worden.

In der Nacht zum Mittwoch kamen Menschen durch russische Luftangriffe ums Leben. In Mikolajew sind zwei Menschen getötet worden, drei weitere wurden verletzt, zitiert der Telegram-Kanal „Trucha“ Bürgermeister Senkewitsch. In Bachmut sind nach Angaben des Gouverneurs Pawel Kirilenko fünf Menschen durch Raketen getötet worden.

Auch in den „Volksrepubliken“ gibt es Opfer zu beklagen. Vier Personen sind in der Ortschaft Golmowsk bei Horliwka durch Beschuss getötet worden, in Perewalsk, das von der „Volksrepublik Luhansk“ kontrolliert wird, ist ein 15-jähriger Junge getötet worden, berichtet strana.news auf seinem Telegram-Kanal.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Die Einnahme von Isjum ist wirklich ein Meilenstein, bei aller Skepsis (die praktisch alle Militärexperten teilen) hinsichtlich der Frage, inwieweit der ukrainische Vormarsch weitergehen kann und ob sich der russische Zusammenbruch fortsetzt und auf andere besetzte Regionen übergreift, kann man das nicht oft genug betonen. Das war das russische Hauptquartier, wo Gerassimow mit den Kommandeuren tagte und von dem aus die Russen die Kesselschlacht zur Einnahme der gesamten Ostukraine orchestrieren wollten. Dass sie von dort vertrieben worden sind, macht das Hauptziel des russischen "Großangriffs" im Osten seit April zunichte.

    • @Günter Picart:

      Ja Plus die Einheiten die da waren, haben ihre schweren Waffen zurückgelassen, Berge an Munition. Die Ukraine hat genügend Ausrüstung für 2 neue Regimenter erbeutet. Dieser Angriff hat die Ukraine nicht nur strategisch sondern auch taktisch gestärkt. Mit genügend Waffen kann die Ukraine ihr gesamtes Gebiet befreien das hat dieser Angriff gezeigt.

      • @Machiavelli:

        Siehe meinen Link zu Reisner (hat sich überschnitten), so einfach ist es leider nicht.



        www.youtube.com/watch?v=DKpnUMGnMs8

        • @Günter Picart:

          "Siehe meinen Link zu Reisner (hat sich überschnitten), so einfach ist es leider nicht."



          www.youtube.com/watch?v=DKpnUMGnMs8



          Habe mir Herrn Reisners Interview angehört. Und ich verstehe nicht, inwiefern es Ihr "so einfach ist es leider nicht" belegt. Könnten Sie das erklären?



          Was das Interview in jedem Falle zeigt, ist, dass Analysen schnell altern in diesen Tagen. Das von Herrn Reisner hypothetisch formulierte neue strategische Ziel der Russen, dass sie es nun u.a. darauf anlegen werden, sich entlang des Oskol-Flusses (also im äußersten Osten des Charkower Gebiets) festzusetzen, ist ja bereits Makulatur. Laut Ukrainischem Generalstab vom heutigen Tag haben die Ukrainer den Fluss schon überschritten (erste inoffizielle diesbezügliche Meldungen gab es ja schon vor Tagen) und die Grenze des Lugansker Gebiets erreicht.



          Reisner erwähnt es zwar, aber er bewertet IMO nicht richtig, in was für einem desolaten Zustand sich die russischen Einheiten nach Monaten ohne Rotation etc. befinden.



          Seine Erläuterungen zum "Brückenkopf Cherson" finde ich, für einen militärischen Fachmann, ziemlich weltfremd, zumindest sollte er erklären wie das geht, einen Brückenkopf zu halten, ohne Nachschub...

        • @Günter Picart:

          Reisner hat im Recht, aber er ist vom Prinzip her pessimistisch.



          Die Ukraine hat nicht das Ziel die Russen frontal anzugreifen und zu überrollen. Die Strategie die sich bewährt hat (wie in Kharkiv bewiesen) ist immer noch:



          a) Annutzen - wenn nötig durch Afugabe von Gebiet.



          b) Zerstören von Logistik - Möglich seit sie Himars und Panzerhaubitzen (nicht nur die Duetschen) haben.



          c) Schwachpunkte ausnutzen



          d) Warten bis die russische Armee so weit demoralisiert ist das Teil der Front unter Druck zusammenbrechen