Gebietsgewinne in der Region Charkiw: Fest in ukrainischer Hand
Isjum ist eine der Städte, die zuletzt befreit wurden. Das ukrainische Selbstbewusstsein steigt, doch der Schrecken nimmt kein Ende.
Langsam zieht ein ukrainischer Soldat die blau-gelbe Nationalflagge am Fahnenmast nach oben. Der Hintergrund ist gespenstisch: ein mehrstöckiges Haus mit schwarzen Rußflecken und gähnenden Fensteröffnungen, in denen mal, in friedlicheren Zeiten, Fensterglas die Einwohner vor den Unbilden der Natur geschützt hatte.
Während die ukrainische Nationalhymne erklingt, halten sich wenige Meter weiter Präsident Wolodimir Selenski und Andrij Jermak, Chef der Präsidialadministration, die Hand auf das Herz. Der Ort heißt Isjum, und die Präsenz des Präsidenten heißt vor allem eins: die Kleinstadt Isjum im Gebiet Charkiw, noch vor wenigen Tagen von den russischen Truppen besetzt, ist fest in ukrainischer Hand.
Angesichts der jüngsten Gebietsgewinne im Gebiet Charkiw wächst die Zuversicht, die Besatzer vertreiben zu können, steigt das ukrainische Selbstbewusstsein.
„Der Mythos von der Unbesiegbarkeit der russischen Armee ist in der ganzen Welt gebrochen worden, was einen völligen Perspektivwechsel hin zu einer Kiew-zentrierten Sichtweise bedeutet“, freut sich Alexej Arestovich, Berater des Chefs der Präsidialadministration, auf gordonua.com. Nun sähen sich auch Skeptiker gezwungen, die Situation neu zu bewerten. Bald werde die Ukraine „der wichtigste Sicherheitsgeber in Osteuropa sein“. Doch angesichts zahlreicher Berichte über grausame Menschenrechtsverletzungen in den ehemals von Russland besetzten Gebieten gibt es für Freude über die Rückeroberungen kein Platz.
Berichte über Folter
„Butscha ist überall in der Ukraine, wo gekämpft wird“, zitiert der Telegram-Kanal „Trucha“ Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministers. „Mehr als tausend Menschen sind durch den Beschuss in der Region Charkiw gestorben. Was schmerzt mehr – bei einer Schießerei auf der Straße in Butscha zu sterben, wenn ein Panzer auf einen fahrradfahrenden Großvater schießt, oder durch russische Raketen, die auf die Bewohner von Charkiw niederprasseln?“ Und der ukrainische Dienst von BBC berichtet von Interviews mit Bewohnern ehemals russisch besetzter Ortschaften, die Folterungen und Morde durch russische Soldaten bezeugen.
So berichtet ein Zeuge mit dem Namen Artjom gegenüber dem BBC aus der Stadt Balaklija in der Region Charkiw, dass er mehr als 40 Tage Gefangener der Russen war und auch mit Elektroschocks gefoltert worden sei. Balaklija war bis zum 8. September besetzt. Die Russen hätten extra während der Folterungen das laute Belüftungssystem ausgeschaltet, damit in den benachbarten Zellen zu hören sei, wie andere Gefangene vor Schmerz und Angst schrien. Auch Frauen seien gefoltert worden.
In der Nacht zum Mittwoch kamen Menschen durch russische Luftangriffe ums Leben. In Mikolajew sind zwei Menschen getötet worden, drei weitere wurden verletzt, zitiert der Telegram-Kanal „Trucha“ Bürgermeister Senkewitsch. In Bachmut sind nach Angaben des Gouverneurs Pawel Kirilenko fünf Menschen durch Raketen getötet worden.
Auch in den „Volksrepubliken“ gibt es Opfer zu beklagen. Vier Personen sind in der Ortschaft Golmowsk bei Horliwka durch Beschuss getötet worden, in Perewalsk, das von der „Volksrepublik Luhansk“ kontrolliert wird, ist ein 15-jähriger Junge getötet worden, berichtet strana.news auf seinem Telegram-Kanal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich