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Gaza-Protest in Berlin-FriedrichshainIm Hunger vereint

Eine Palästinenserin und ein Deutsch-Israeli verweigern aus Solidarität mit Gaza seit 60 Tagen das Essen. Sie haben die vage Hoffnung auf Verständigung.

Mai Shahin und David Ginati, die beiden Hungernden, Berlin-Friedrichshain, August 2025 Foto: Timm Kühn

Berlin taz | Das Interview hat noch gar nicht richtig begonnen, da wird es schon unterbrochen. Mai Shahin schaut gebannt auf ihr Handy, das die dürre, kleingewachsene Frau mit beiden Händen halten muss, während sie im Schneidersitz am Fenster einer Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain sitzt. Sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Schwach sagt sie: „Sie haben Anas al-Sharif getötet.“ David Ginati, Deutschisraeli mit kräftigem Vollbart und dürren Fingern, legt seinen Kopf in die Knie der Palästinenserin, die mit einer weiß-schwarzen Kufija zugedeckt sind. Kurz trösten sich beide gegenseitig.

Am Sonntagabend, während das Interview stattfindet, verbreitet sich die Nachricht, dass die israelische Armee den Al-Jazeera-Journalisten al-Sharif wohl gezielt getötet hat. „Sie haben keine Ahnung, wen sie da töten“, murmelt Shahin immer wieder. Dann schaut sie dem Reporter in die Augen: „Genau das ist der Grund für unseren Hungerstreik. Das muss aufhören. Wir wollen, dass die ganze Welt versteht, das sind gute Menschen, die getötet werden. Keine Terroristen, sondern Menschen wie sie.“

Für dieses Ziel verweigern Shahin und Ginati am Donnerstag nun schon 60 Tage die Nahrungsaufnahme. Sie tun dies im Rahmen der Kampagne „Their Hunger is Ours“, die sich gegen Genozid und Hunger in Gaza, Siedlergewalt in der Westbank und für die sichere Rückkehr der israelischen Geiseln einsetzt. Es ist eine Initiative des Friedenscenters Satyam Homeland im palästinensischen Beit Jala, nahe Bethlehem. Nach dem 7. Oktober haben Ak­ti­vis­t:in­nen dort das nach eigenen Angaben einzig verbleibende palästinensisch-israelische Friedenszentrum in der Westbank aufgebaut. Hier vernetzen sich lokale Aktivist:innen, es finden Bildungs- und Begegnungsveranstaltungen mit Israelis und Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen statt, sowie Trainings in gewaltfreiem Aktivismus.

Seit Beginn des Hungerstreiks veranstaltet die Kampagne auch tägliche Zoomsessions, um die „systematische Entmenschlichung“ von Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen zu durchbrechen, wie Ginati sagt. In diesen stellen sich Hilfs- und Friedensinitiativen vor und berichten von der Realität aus Gaza und der Westbank. Dazu ruft die Kampagne zur Teilnahme an einem globalen Hungerstreik aus Solidarität mit Gaza auf. Auf einer Karte im Internet können sich Menschen für den Essensverzicht eintragen – das Spektrum reicht nach Angaben der Initiative von einem Mahlzeitverzicht täglich bis zum mehrwöchigen Hungerstreik.

Lebensbedrohlich

Es ist ein Vorhaben, dass für Ginati bereits lebensbedrohlich geworden ist. Der Hungerstreik wird von einem medizinischen Team begleitet, die beiden nehmen Vita­mine und Säfte zu sich, um länger durchzuhalten. Doch am Ende vergangener Woche versagte sein Herz erstmals, erzählt Ginati: „Ich hatte Kurzatmung und konnte nicht mehr laufen.“ Im Krankenhaus hätten ihn die Ärzte gewarnt: Es drohen irreparable Herzschäden, wenn er den Hungerstreik fortsetzt. Ginati nimmt jetzt wenigstens zunächst die wichtigsten Nährstoffe zu sich. „Ich will weitermachen. Nur in welcher Form, das muss ich jetzt entscheiden“, sagt er mit fast trotziger Stimme.

Was bringt Menschen dazu, sich für den verzweifelten Schritt zu entscheiden, das eigene Leben derart zu gefährden? Shahin guckt in die Leere. „Ich möchte, dass David lebt, dass er gesund ist, dass er isst“, sagt sie. Doch jeden Tag würden in Gaza Hunderte Menschen durch Bomben und Mangelversorgung sterben. „Wir entscheiden uns zu hungern, um ein Licht auf die zu werfen, die keine Wahl haben“, sagt sie. Es scheint, als treibe die beiden auch die persönliche Motivation an, das Leid in Gaza selbst mitzufühlen.

Tatsächlich sind Po­li­ti­ke­r:in­nen nicht der primäre Adressat ihres Streiks. Es gibt zwar Forderungen – ein Waffenstillstand, genügend Hilfslieferungen und eine internationale Kontrolle ihrer Verteilung –, aber sie wüssten, dass ihre Stimme in Jerusalem oder im Kanzleramt nicht gehört werde, sagt Ginati: „Damit das Töten aufhört, braucht es ein globales Aufwachen und Widerstand“, sagt er. Dazu wollen die beiden beitragen. Dafür wollen sie nun verstärkt in die Öffentlichkeit treten. Am vergangenen Freitag trat Shahin etwa auf einem Protest der israelischen Friedensinitiative Standing Together in Berlin auf.

Mantra

Im Interview sprechen beide langsam, man merkt, dass das Sprechen Kraft kostet. Doch wenn ­Shahin in Fahrt kommt, steigert sie sich in eine Art Mantra hinein, dabei wird ihre Stimme kraftvoll. „Wir werden niemals aufhören, alle Namen zu nennen, die der Hungernden, der Geiseln, der Gefangenen“, sagt sie dann. „Als Palästinenserin weigere ich mich, nur die eine Seite zu nennen und selbst zur Unterdrückerin zu werden. From the river to the sea. Everyone shall be free“, sagt sie – und betont jede Silbe.

Die Sprache, die sie anschlägt und die im so verhärteten Nahost­diskurs selten geworden ist, ist die der gewaltfreien Kommunikation, der Tradition, in der sich beide verorten. Shahin ist seit Jahren bei vielen Friedensinitiativen engagiert, etwa bei den Combatants for Peace, einer gewaltfreien Graswurzelbewegung, gegründet von Ex-Soldat:innen der israelischen Armee und palästinensischen Paramilitärs. Ginati ist neben seiner Arbeit als Friedensaktivist Therapeut und Coach für gewaltfreie Kommunikation und spirituelle Themen. Shahin sagt: „Wir stehen in der Tradition von Gandhi, der auch gehungert hat, damit es Gerechtigkeit und Freiheit für alle geben kann.“

Gelegentlich tritt im Gespräch dieser spirituelle Einschlag zutage. „Unsere Identitäten sind die Wurzel vielen Übels, es sind Ablenkungen von unserer Menschlichkeit“, sagt Ginati dann – und kurz klingt es, als hätten er und Shahin in ihrer Beziehung den Nahostkonflikt schon transzendiert. Doch so einfach sei das nicht. „Wenn wir heilen wollen, müssen wir uns mit unseren Schmerzen und Traumata auseinandersetzen“, sagt Ginati. „Dieser Schmerz ist unter anderem Resultat von Jahrhunderten der Kolonisierung, des Rassismus und der Ideologie der weißen Vorherrschaft.“ Erst durch die tiefgreifende Arbeit der gegenseitigen Anerkennung sei es möglich, die Gewaltspirale zu durchbrechen.

Mitverantwortlich

Insofern sei der Frieden eine Mammutaufgabe. „Es geht um viel mehr, als nur den Hunger zu stoppen. Das ist ein Tropfen in dem Meer, das kommen muss“, sagt Shahin. Auch der von Bundeskanzler Merz verkündete Stopp deutscher Waffenlieferungen nach Israel könne nur der Anfang sein. „Deutschland ist mitverantwortlich“, sagt sie. Die Menschen im Globalen Norden hätten die Macht und die Verantwortung, Israel in die Schranken zu verweisen. Doch in Berlin habe sie erlebt, wie sich auf den Straßen ähnliche Gewalt abspiele, wie bei den Friedensdemos in Tel Aviv oder Jerusalem. „Diese Gewalt wird auch Deutschland verfolgen. Die Polizist:innen, die sie ausüben, gehen abends nach Hause. Doch die Gewalt nehmen sie mit“, sagt sie.

Für den Frieden sei das Verständnis zentral, betont Ginati. „Wessen Familie zu Asche bombardiert wird, dem wird es schwerfallen, die Namen der Geiseln zu sagen“, sagt er. Das sei verständlich, gerade im proisraelisch verzerrten Diskursklima. „Wir müssen diesen Schmerz anerkennen, statt die Opfer zu Tätern zu machen“, ist er überzeugt. Für die Verständigung sei es zentral, dass Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen und Israelis gemeinsam auftreten.

Ob das Hungern mit dem vagen Ziel, so zu einem Umdenken beizutragen, eine sinnvolle Strategie ist? „Wir wollen nicht sterben, sondern durch unser Hungern die Menschen aufwecken“, sagt Ginati. Wie lange das noch weitergehen kann? „Ich gebe die Frage weiter, an alle Menschen: Wie lange sollen wir noch hungern? Ihr habt die Verantwortung, zu verhindern, dass mein Herz und Tausende andere in Gaza aufhören zu schlagen“, sagt sie. Man fürchtet, sie könnte es ernst meinen.

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2 Kommentare

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  • Bewundernswert und richtig, das der Weg sehr lang sein wird.

  • Vielen Dank für den Artikel. Ein guter Freund hat mir mal von den Worten eines Papstes erzählt: Frieden wird einkehren, wenn viele Menschen fasten und beten. Im Ramadan kann der Verzicht als ein Geschenk betrachtet werden. Das Selbst lichtet sich. Deshalb wünsche ich den beiden großen Menschen, dass sie lernen können, ihren Hungerstreik auch anders zu betrachten. Von einem anderen Standpunkt aus. Dass sie ihren Kampf weiter führen können, mit guter Absicht, ohne große Erwartungen und in ihm lernen. Mein Meister sagte einmal, es ist wichtig, dass wir zuversichtlich sind und positiv. Ich verstehe es in dem Sinne, dass es der Weg mit der größten Aussicht auf Erfolg ist. Es geht hierbei nicht oder nicht vor allem um Gerechtigkeit. Es hört sich richtig an wenigsten das lebensnotwendige zu sich zu nehmen. ch selbst fühle die Schwere unserer Zeit. Ich fühle mich berührt von eurer Entscheidung. Euer Weg kann etwas lehren. Ich wünsche euch Sanftheit auch zu euch; Glauben an eine Zukunft in der ihr hilfreich seid und eure Erfahrung anwenden könnt. Eine wichtige Zukunft und wir wissen nicht, wie sie sein wird. Aber wichtig wird sie sein, so es Menschen gibt und auch ohne sie, the past teach.