Gaskonzern Wintershall Dea: Ziemlich bester Klimakiller
Europas größter Öl- und Gaskonzern Wintershall Dea will sich aus Russland zurückziehen und klimafreundlich wirtschaften. Dabei gibt es etliche Haken
V ielleicht ein Dutzend Menschen liegen an einem Tag Anfang November auf dem kratzigen Pflaster vor dem beige-gräulichen Gebäude im Kasseler Stadtzentrum. Rote Flecken ziehen sich über ihre weißen Shirts, kritische Slogans über ihre Schilder: Es ist ein blutroter Protest vor der Zentrale von Wintershall Dea, Europas nach eigenen Angaben führendem Öl- und Gasproduzenten. „Kein Treibstoff und keine Finanzmittel für Putins Krieg“, steht auf einer der Papptafeln, die die Klima- und Friedensaktivist:innen halten.
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Die deutsche Abhängigkeit von Gas – und speziell von russischem Gas – hat einige Namen. Einer davon ist Wintershall Dea. Dabei ist der Konzern jahrelang etwas unter dem Radar der Öffentlichkeit geblieben. Andere deutsche Fossilriesen wie RWE oder Uniper bekommen mehr Aufmerksamkeit. Dann katapultierte Russlands Ukrainekrieg Wintershall Dea doch ganz nach vorn in die Nachrichten.
Das Unternehmen mit Sitz in Kassel und Hamburg entstand im Mai 2019 durch einen Zusammenschluss der Wintershall Holding GmbH, einer Tochter des Chemieriesen BASF, und der Deutschen Erdöl Aktiengesellschaft, kurz DEA. DEA gehörte bis 2014 zu RWE, dann wurde es von LetterOne gekauft, einer von russischen Oligarchen gegründeten Investmentfirma. BASF hält heute 72,7 Prozent an Wintershall Dea, der Rest liegt bei LetterOne. Der Name Wintershall (gesprochen: Winters-hall) setzt sich aus dem Nachnamen des Firmengründers Carl Julius Winter und dem althochdeutschen Wort „Hall“ für „Salz“ zusammen.
Im Vergleich zum weltweiten Branchenprimus Saudi Aramco ist Wintershall Dea eine mittelgroße Nummer, hat im vergangenen Jahr etwa 6 Prozent der Menge an Öl und Gas gefördert, die der saudi-arabische Staatskonzern ausbeutete. In Europa ist Wintershall damit aber Spitze. Das Unternehmen förderte im vergangenen Jahr 597.000 Barrel Oil Equivalent, das ist eine Umrechnungseinheit für Gas, um Erdöl und Gas zusammen in einer Summe angeben zu können. Fast die Hälfte der Fördermenge kam aus Russland – trotz Krieges.
Wir wissen alles Nötige über die Klimakrise. Was fehlt, sind echte Konsequenzen – Entscheidungen, die wirklich etwas Verändern. Doch es gibt Saboteure und Blockierer, die dem Wandel im Weg stehen: Menschen und Organisationen, die ohne Gewissen die Interessen klimaschädlicher Industrien vertreten oder am ‚Weiter so‘ schmutziges Geld verdienen.
Wer sabotiert notwendige Entscheidungen? Wer blockiert, was wichtig ist – und warum? Wer führt uns wirklich in die Krise? In dieser neuen Serie suchen und finden wir die Klima-Saboteure.
Das soll sich jetzt ändern. Nach langem Zögern rang sich der Konzern Anfang des Jahres zum Rückzug aus seinem lukrativen Russlandgeschäft durch. „Eine Fortführung unseres Geschäftes in Russland ist nicht haltbar“, verkündete Vorstandschef Mario Mehren im Januar. Der Krieg gegen die Ukraine habe die Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zerstört, auf die das Unternehmen lange gebaut habe.
Keine Frage der Moral
Um Moral geht es ihm dabei nicht. Russlands Regierung ist laut Mehren Ursache für den Rückzug. „Externe Eingriffe in die Aktivitäten unserer Joint Ventures“ hätten dazu geführt, dass Wintershall Dea nicht wie bisher in Russland schalten und walten könne – „die Joint Ventures wurden de facto wirtschaftlich enteignet“. Wintershall Dea werde das Land dennoch „in geordneter Weise“ verlassen.
Bis dahin hatte der Konzern ungeachtet des russischen Angriffs und der auch in der Branche wachsenden Kritik an seinen russischen Beteiligungen festgehalten. Andere Energiekonzerne wie Enel, Shell oder Total hatten sich längst von ihren Russland-Aktivitäten verabschiedet. Wintershall war zuvor 30 Jahre in Russland aktiv – und verdiente unter anderem auch mit den Pipeline-Projekten Nord Stream 1 und 2. Vorstandschef Mehren selbst arbeitete lange Zeit in Moskau und leitete das Russlandgeschäft. Zuletzt war sein Konzern – zusammen mit dem Staatskonzern Gazprom – noch an Förderprojekten im Erdgasfeld Juschno Russkoje sowie im Urengoi-Feld in Sibirien beteiligt.
Der deutsche Konzern verdiente damit wegen der hohen Energiepreise von Januar bis September 2022 etwa 1,3 Milliarden Euro, fünfmal so viel wie im gleichen Zeitraum 2021. Gleichzeitig zahlte Wintershall Dea dafür 320 Millionen Euro Einkommenssteuer sowie 400 Millionen Euro an sogenannten Fördersteuern in Putins Staatskasse, wie Spiegel und ZDF herausfanden. Insgesamt schloss Wintershall das Jahr 2022 trotz der Russland-Turbulenzen mit einem sattem Plus ab: Auf 5,9 Milliarden Euro beläuft sich laut CEO Mehren das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen, auch netto war es noch fast 1 Milliarde. Der aktuelle Rückzug aus Russland macht das Ergebnis allerdings zunichte, denn er kostet rund 5 Milliarden an einmaligen Ausgaben.
Gerüchte um Kriegsbeitrag
Angeblich fliegen Putins Bomber auch mit Hilfe von Wintershall Dea. Laut Recherchen von Spiegel und ZDF soll das Unternehmen große Mengen Gaskondensat an Gazprom verkauft haben, eine erdölähnliche Flüssigkeit, die zur Herstellung von Flugzeugtreibstoff verwendet werden kann. Gazprom wiederum soll eine Reihe russischer Luftwaffenstützpunkte an der ukrainischen Grenze mit Kerosin beliefert haben, auf denen SU-34-Jagdflugzeuge stationiert sind. Diese Maschinen kamen nach Angaben von ukrainischen Menschenrechtsgruppen wiederholt auch bei Kriegsverbrechen zum Einsatz. Kein Einzelfall: CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter behauptet, Wintershall Dea sei „bereits seit 2014 an der Finanzierung der russischen Kriegskasse beteiligt, insbesondere an der Produktion von Kerosin für russische Kriegsflugzeuge und russische Kriegswaffen“. Der Konzern weist den Vorwurf der indirekten Kriegsbeteiligung allerdings zurück. Wintershall Dea habe keinen Treibstoff für die russische Kriegsmaschinerie produziert.
Constantin Zerger ist einer der profiliertesten Kritiker des Unternehmens. Der Bereichsleiter Energie und Klimaschutz bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) bezeichnet den Rückzug aus Russland gegenüber der taz als „eine richtige Entscheidung, die aber viel zu spät kam“. Wie andere hätte Wintershall Dea schon viel früher Konsequenzen aus dem russischen Angriff ziehen müssen: „Dass dies so lange gedauert hat, ist angesichts des Leids in der Ukraine ein Armutszeugnis für das Management.“
Völlig unklarer „klarer Plan“
Zerger bezweifelt zudem, dass es für das Ende der Russland-Aktivitäten überhaupt einen konkreten Zeitplan gibt. Konzernsprecher Stefan Leunig weicht auf Nachfrage aus: „Der Beschluss, dass sich Wintershall Dea komplett aus ihren Aktivitäten in Russland zurückzieht, wird unter Einhaltung aller anwendbaren rechtlichen Verpflichtungen in geordneter Weise umgesetzt“, sagt er. Der Zeitplan könnte für einzelne Unternehmensteile unterschiedlich sein, die Umsetzung der Entscheidung habe aber bereits begonnen. „Wir haben einen klaren Plan“, erklärte Vorstandschef Mehren noch Ende Februar. Doch „Details, wie wir den Rückzug gestalten“, gibt Sprecher Leunig auch auf Nachfrage nicht preis.
Will Wintershall die Neuorientierung nutzen, um klimafreundlicher zu werden? Eher nicht. Nach dem Raus aus Russland will der Konzern die Förderaktivitäten stattdessen in anderen Ländern verstärken, explizit nennt man Ägypten, Algerien, Mexiko und Norwegen. Derzeit sucht und fördert das Unternehmen Gas und Öl in elf Staaten. In Argentinien etwa gehört es seit Jahren zu den fünf größten Erdgasproduzenten. Gefördert wird vor der Küste Feuerlands, aber auch besonders umwelt- und klimaschädlich per Fracking in der Region Vaca Muerta, einem der weltweit größten Ölschiefer-Vorkommen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Januar Buenos Aires besuchte, bahnte er den Bezug von argentinischem Fracking-Gas an, das auch von Wintershall Dea aus dem Boden geholt wird.
Rhetorisch ist Wintershall dennoch auf Klimakurs. Man unterstütze „das Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden“, erklärt der Konzern. Dafür habe man sich „anspruchsvolle Ziele gesetzt“ und, wie Sprecher Leunig erkläutert, einen „Energy Transition Pathway“ entwickelt. Im Kern heißt das: noch mehr Fokus auf die Erdgas-Sparte – obwohl natürlich auch Erdgas ein fossiler Energieträger ist, der zu starken Treibhausgasemissionen führt, wenn auch nicht zu ganz so großen wie Öl. Man werde sich zudem auf „kohlenstoffarme Projekte und Aktivitäten“ konzentrieren, sagt Leunig – ohne Details zu nennen. Außerdem steigere Wintershall überall im Unternehmen die Energieeffizienz und senke „den Emissionsfußabdruck unserer Anlagen und Aktivitäten, soweit dies vernünftigerweise möglich ist“. Zudem würden CO2-Emissionen mit Aufforstungs- oder Naturschutzprojekten kompensiert.
Fossiles Geschäftsmodell
In seinem Nachhaltigkeitsbericht führt Wintershall Dea aus, dass bis 2030 die Treibhausgasemissionen in allen Explorations- und Produktionsstätten auf „netto Null“ reduziert werden sollen. Der Haken: Auf das Geschäftsmodell mit fossilen Kraftstoffen wird sich das praktisch nicht auswirken. Der Konzern will lediglich die Emissionen senken, die während seiner Tätigkeit anfallen. Das beinhaltet zum Beispiel den Umgang mit dem versehentlichen Austritt von Gas bei der Förderung von Öl. Dieses Begleitgas zu verarbeiten und zu transportieren ist schwierig. Vielerorts fackelt es die Branche stattdessen lieber ungenutzt ab. Auch die Abgase von Dienstwagen oder die Emissionen, die durch den verbrauchten Strom anfallen, sind bei dem Klimaziel von Wintershall Dea berücksichtigt. Nicht dabei, aber besonders klimaschädlich: die Emissionen, die anfallen, weil Kund:innen die fossilen Produkte kaufen und verbrennen. Hier sollen Verbesserungen nur „angestrebt“ werden.
Längst nicht ausreichend findet das Sonja Meister von der Umweltorganisation Urgewald, die die Aktivitäten großer Konzerne beobachtet. Sie fordert, dass Wintershall Dea sich ein Klimaziel für die gesamte Lieferkette setzt. Die Emissionen durch das verkaufte Öl und Gas würden schließlich den größten Teil von Wintershalls CO2-Fußabdruck ausmachen, argumentiert sie. Laut der Deutschen Umwelthilfe sind es mehr als 95 Prozent von rund 80 Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Zum Vergleich: Das ist mehr als ganz Österreich jährlich ausstößt und etwa ein Zehntel der deutschen Emissionen.
Der Umweltverband hat den Konzern deshalb vor dem Landgericht Kassel verklagt. Es geht genau darum, ob das Unternehmen auch für die Emissionen Verantwortung übernehmen muss, die seine Produkte bei der Verwendung zwangsläufig verursachen. Das hieße, dass Wintershall seine Öl- und Gasförderung in den nächsten Jahren in Einklang mit dem 1,5 Grad-Ziel reduzieren muss. Mündlich verhandelt wird im August.
Bohren im Nationalpark
Zudem fordert die Umwelthilfe Wintershall Dea auf, neue Gasbohrungen im größten deutschen Ölfeld Mittelplate mitten im Nationalpark Wattenmeer sofort aufzugeben. „Auch hier bereiten wir uns derzeit auf eine Klage vor“, kündigt Zerger an. „Eine neue fossile Förderung in der Nordsee, noch dazu bis 2069, möchten wir keinesfalls akzeptieren.“
Umstritten sind darüber hinaus Pläne des Unternehmens, die Emissionen durch den Einsatz von CCS-Technologie zu reduzieren. CCS ist kurz für Carbon Capture and Storage, steht also für die Abscheidung von Kohlendioxid, das zum Beispiel aus fossilen Kraftwerken kommt, und die anschließende Speicherung im Untergrund. Über das Verfahren wird kontrovers diskutiert. Als problematisch gilt vor allem der enorme zusätzliche Energieaufwand für Abscheidung, Transport und Speicherung des Treibhausgases. Aus Sicht fossiler Energieunternehmen ist es aber die Antwort auf die Frage, wie man von Klimaneutralität sprechen kann, obwohl man weiter auf fossile Kraftstoffe setzt.
Umweltverbände warnen hingegen vor einer möglichen Zerstörung von Ökosystemen und der Gefahr von Lecks, aus denen CO2 austreten könnte. „CCS ist eine Scheinlösung, die einem großen Teil der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht helfen wird“, sagt Greenpeace-Energieexperte Karsten Smid. „Die überdimensionierten Pläne der Bundesregierung, bis zu ein Zehntel der heutigen Emissionen künftig zu verpressen, gaukeln Teilen der Wirtschaft ein ‚Weiter-so‘ vor. Das ist klima- und wirtschaftspolitisch gefährlich.“ Eine weitere Sorge äußert der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND): Die Industrie könnte das CCS-Verfahren als Ausrede benutzen, um ihren CO2-Ausstoß nicht reduzieren zu müssen. Ähnlich sieht es Zerger: „Die CCS-Investitionen des Konzerns sind kein Teil einer Klimaschutzstrategie, sondern ein Rettungsversuch für das fossile Geschäftsmodell.“
Als CCS-Vorreiter gilt Norwegen. Dort sind bereits konkrete Projekte angelaufen, Wintershall Dea ist dabei: 2022 sicherte sich das Unternehmen dort seine erste CCS-Speicherlizenz. Im Oktober unterschrieb Wintershall Dea eine Absichtserklärung für den Bau einer CO2-Verladestelle. Über diese Anlage soll Gas per Schiff in den Grenzbereich zwischen Norwegen und Dänemark transportiert werden. Das „Greensand“ genannte Projekt beginnt mit einer Pilotphase. Künftig sollen dort rund 1,5 Millionen Tonnen CO2 jährlich verpresst werden. Laut Wintershall Dea sind später sogar acht Millionen Tonnen im Jahr denkbar.
Die Umweltschützer:innen stören sich auch daran, dass Wintershall Dea vom Finanzmarkt immer noch wohlwollend unterstützt wird. Eine Untersuchung von Deutscher Umwelthilfe und Urgewald aus dem vergangenen Jahr listet die Banken und Investoren hinter dem Öl- und Gasproduzenten auf. Das Ranking führen Commerzbank, Citigroup, HSBC und UniCredit an. An der Spitze der Investoren, die insgesamt 1,1 Milliarden US-Dollar in Anleihen halten, steht der Norwegische Pensionsfonds. Sonja Meister von Urgewald hält es für einen „Skandal, dass sich Investoren und Banken nicht von Wintershall Dea distanzieren“. Die Anteilseigner machten sich damit an der Klimazerstörung mitschuldig, findet sie. Der Expansionspfad des Unternehmens sei unvereinbar mit dem internationalen Ziel, die Erderhitzung bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellem Niveau zu stoppen. Wintershall Dea missachte nicht nur die Pariser Klimaziele, sondern ignoriere auch das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts, meint auch Zerger. „Aus menschenrechtlicher und ökologischer Sicht ist Wintershall Dea ein Totalausfall.“
2022 sei „insgesamt extrem herausfordernd mit grundlegenden Veränderungen“ für Wintershall gewesen, sagte Vorstandschef Mehren bei der Jahrespressekonferenz Ende Februar in Berlin. Während er spricht, demonstrieren draußen vor der Tür erneut Aktivist:innen von Umwelthilfe und Urgewald. Sie halten ein Schild mit dem Firmenlogo in die Höhe, rote Farbe läuft über das Symbol.
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