Ganggewalt in Haiti: In Haiti übernehmen die Banden

Haitis sonst verfeindete Gangs haben gemeinsam das Nationalgefängnis gestürmt und Gefangene befreit. Nun fordern sie den Rücktritt des Premiers.

Ein ausgebranntes Auto steht vor einem Gebäude

Port-au-Prince, Haiti am 3. März: Vor dem nationalen Gefängnis steht ein ausgebranntes Auto Foto: Odelyn Joseph/ap

FRANKFURT AM MAIN taz | In einer nie dagewesenen gemeinsamen Aktion haben die bewaffneten Gruppen in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince am Samstag das Nationalgefängnis gestürmt und die Gefangenen befreit. Laut UN-Angaben sollen 3.500 Gefangene, darunter viele Gangmitglieder, geflohen sein. Damit sind die meisten der im Nationalgefängnis Inhaftierten entkommen.

Dass dort nicht nur Gangmitglieder einsaßen, sondern auch Kleinkriminelle, die seit Jahren auf ihre Verurteilung warten, zeigt ein Fall, der in haitianischen Medien die Runde macht. Die Polizei, verschreckt durch die Gewalt, mit der die Gangs das Gefängnis stürmten, fackelt normalerweise nicht lange, wenn sie glaubt, einen entflohenen Häftling gefunden zu haben. Sie verhaftete einen alten Mann, der erzählte, er habe zehn Jahre auf seinen Prozess wegen Diebstahls gewartet. Danach ließ sie ihn laufen.

In mehreren Video-Pressekonferenzen verkündete der wohl bekannteste Gangleader, Jimmy Chérizier, ein ehemaliger Polizeioffizier, die bewaffneten Aktionen würden weitergehen, bis der gerade in Kenia weilende Ministerpräsident Ariel Henry gestürzt sei. Er forderte die Polizei auf, Henry bei seiner Rückkehr festzunehmen.

Laut Berichten aus Haiti stehen die vereinigten Gangs, die sich sonst mit unerbittlicher Härte gegenseitig bekämpfen, kurz davor, den Präsidentenpalast einzunehmen und damit eines der wenigen verbliebenen Symbole staatlicher Macht.

Internationale Polizeimission hat noch nicht begonnen

Hintergrund der Eskalation in der seit Jahren sich entfaltenden Ganggewalt sind mehrere Faktoren. In einer Übereinkunft von Herbst 2022 hatte der Interimspräsident Henry zugesichert, seinen Posten am 7. Februar 2024 zur Verfügung zu stellen. Bis dahin sollten Wahlen stattgefunden haben. Aber Henry blieb im Amt – wegen der Sicherheitssituation seien Wahlen nicht durchführbar, argumentierte er. Das führte zu großen Demonstrationen unterschiedlicher politischer und krimineller Akteure.

Im Januar, dem mit 1.100 Opfern tödlichsten Monat seit dem Mord am letzten gewählten Präsidenten, sollte eigentlich eine von der UNO beauftragte Polizeimission beginnen. Angeführt von 1.000 kenianischen Polizisten sollte sie die Gangs bekämpfen. Aber aufgrund eines Gerichtsurteils in Kenia konnte die umstrittene Mission bislang nicht beginnen.

Neben den Gangs versteht auch ein breites politisches Spektrum in Haiti den internationalen Polizeieinsatz als einen Versuch, Henry an der Macht zu halten. Im Februar, zum eigentlich angekündigten Datum der Abdankung Henrys, eskalierten die Kämpfe, die das Ende jeder staatlichen Durchsetzungsgewalt offenbaren.

Die Gangs selbst haben keinen Plan, außer Henry zu stürzen und ihr Geschäftsmodell aus Mord und Entführungen zu erhalten, das manche ziemlich reich gemacht hat. Auch Jimmy Chérizier hat bislang keinerlei Machtanspruch erhoben.

Die Gangs entwickeln eine Eigendynamik

Haitianische Gangs sind gemeinhin mit Politikern verknüpft, die mit ihrer Hilfe ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen durchsetzen. Zur Zeit aber gibt es weder ein Parlament noch einen Senat. Das Geschäftsmodell, das Politik auch immer ist, ist also bedroht.

Die Gangs, die Mittel zum Zweck waren, entfalten nun offenkundig eine eigene Dynamik. Sie bereiten den Boden für unerwartet auftauchende Figuren, die auch ein paar administrative Fähigkeiten aufweisen. So versucht sich beispielsweise ein haitianischer Politiker/Geschäftsmann/Drogendealer ins Gespräch zu bringen, der die letzten sechs Jahre in einem US-amerikanischen Gefängnis verbrachte.

Dieser von den USA ausgewiesene Guy Philipp hat es schon in den wenigen Monaten seit seiner Rückkehr vermocht, zeitweise den haitianischen Süden zu blockieren. Als ehemaliger Militär, der maßgeblich am Sturz von Präsident Aristide 2004 beteiligt war, ist er immer noch gut vernetzt. 2014 als Senator gewählt, verhinderten die USA seinen Amtsantritt und damit seine Immunität und stellten ihn wegen Drogengeschäften in den USA vor Gericht.

Auf die Ereignisse in Haiti reagierte die internationale Politik mit Entsetzen. Brasiliens Präsident Lula, der sich gerade in der Karibik zu einem Treffen der Caricom-Staaten (Karibische Gemeinschaft) aufhielt, forderte, dass sofort gehandelt werden müsse. Das Weiße Haus in Washington gab eine Sicherheitswarnung für US-Bürger ab und forderte sie auf, das Land auf welchem Weg auch immer zu verlassen. US-Fluggesellschaften stellten zumindest an diesem Montag ihre Flüge von und nach Haiti ein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.