G20-Prozess in Hamburg: Schöffe mit eigener Mission
Ein Schöffe im Rondenbarg-Prozess hat sich über einen Fernsehbericht beim NDR beschwert. Der war ihm zu kritisch gegenüber der Polizei.
Denn gegen beide haben die Verteidiger der Angeklagten Befangenheitsanträge gestellt wegen eines Vorgangs, der insbesondere die Unvoreingenommenheit des Schöffen beträchtlich in Zweifel zieht: Er soll sich aus Wut über einen Fernsehbericht nach dem vergangenen Verhandlungstag beim NDR beschwert haben, weil ihm dieser zu kritisch gegenüber der Polizei ausgefallen sei. Auch die Richterin soll in der Folge versucht haben, dessen Einschätzung „inhaltlich unterstützend auszulegen“, kritisiert Verteidiger Sven Richwin.
Die Staatsanwaltschaft hatte in diesem Verfahren ursprünglich sechs Teilnehmer:innen des Protests gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg angeklagt. Sie wirft ihnen besonders schweren Landfriedensbruch, tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte gefährliche Körperverletzung, Bildung einer bewaffneten Gruppe und Sachbeschädigung vor. Mittlerweile stehen nur noch zwei Angeklagte vor Gericht.
Im Mittelpunkt des Prozesses stehen die Ereignisse am Rondenbarg im Hamburger Westen. Dort kam es während des Gipfels am frühen Morgen zu Auseinandersetzungen zwischen rund 200 Demonstrant:innen und der Polizei. Demonstrant:innen warfen Steine und Böller in Richtung der Wasserwerfer, daraufhin schlugen Polizist:innen mit Knüppeln und Fäusten auf die Menge ein und drängten sie zusammen. In Panik versuchten Demonstrant:innen über eine Brüstung zu fliehen, die zusammenbrach: Es gab viele Verletzte, mehr als ein Dutzend davon schwer.
Schöffe beschwert sich beim NDR
Am vergangenen Verhandlungstag sagte deshalb der damalige Einsatzleiter der Polizei als Zeuge aus, worüber der NDR anschließend im „Hamburg Journal“ berichtete. In dem Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass Notfallmediziner:innen G20-Gegner:innen versorgen mussten, die „von Polizisten bei der Festnahme verletzt worden waren“. Da die Demonstrant:innen von zwei Seiten von der Polizei eingekesselt waren, hätten sie „keine Chance“ gehabt, „zu entkommen“. Der Beitrag schließt damit, dass die Staatsanwaltschaft in der Folge insgesamt 70 Anklagen gegen Demonstrant:innen erhoben hatte, aber keine gegen Polizist:innen.
Das brachte den Schöffen so in Rage, dass er sich daraufhin beim NDR beschwerte. „In einem wutbürgerlichen Tonfall“, betont Richwin, sei es dem Schöffen darum gegangen, die Polizei in Schutz zu nehmen. In einer zweiten Mail habe er seiner Kritik noch Nachdruck verliehen. „Das löst bei den Angeklagten verständlicherweise Besorgnis aus“, sagt Richwin.
Schließlich müssen Schöff:innen ihr Amt unvoreingenommen, neutral und ohne Vorurteile ausüben. „In ihrem äußeren Verhalten müssen Schöffen alles vermeiden, was geeignet sein könnte, bei anderen Personen Zweifel an ihrer Unparteilichkeit zu erwecken“, heißt es in einem von der Stadt Hamburg veröffentlichten Merkblatt, das den Ehrenamtlichen als Hilfestellung dienen soll. Schließlich sind sie in ihren Rechten den Berufsrichter:innen grundsätzlich gleichgestellt, unterliegen aber ebenso dem Mäßigungs- und Zurückhaltungsgebot.
Weil der Schöffe also während des laufenden Prozesses und vor Abschluss der Beweisaufnahme versucht hat, Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen, hält ihn die Verteidigung für befangen. „Er hat sich seine Meinung schon gebildet“, sagt Richwin. Und die Vorsitzende Richterin habe das auch getan. Sie wurde später über die Beschwerde des Schöffen informiert, kritisierte zwar sein Verhalten, ließ sich dann aber auch „inhaltlich auf die Diskussion ein und nahm den Schöffen in Schutz“, sagt Richwin. Deshalb liege nun auch gegen sie ein Befangenheitsantrag vor.
Fortlaufende Debatte um Polizeigewalt
Die Verteidigung der beiden Angeklagten hält das ganze Verfahren ohnehin für politisch motiviert. Von den Vorwürfen ist nur noch der des Landfriedensbruchs übrig geblieben. Sollten die beiden Angeklagten, die nachweislich selbst keine Gewalt ausgeübt haben, dafür bestraft werden, wäre das ein Novum in der Rechtsprechung. „Und die Äußerungen des Schöffen und der Richterin reihen sich ein in den politischen Streit, ob es während des G20-Gipfels Polizeigewalt gegeben hat“, sagt Richwin.
Parallel zum laufenden Verfahren muss über die Anträge nun eine andere Kammer am Hamburger Landgericht entscheiden, teilt Gerichtssprecherin Marayke Frantzen mit. Sollte die Richterin tatsächlich befangen sein, wäre der Prozess geplatzt. Für den Schöffen ist, wie in solchen Verfahren üblich, bereits ein Ergänzungsschöffe bestellt, der dann nahtlos einspringen würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Plädoyer im Prozess zu Polizeigewalt
Tödliche Schüsse, geringe Strafforderung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Olaf Scholz in der Ukraine
Nicht mit leeren Händen