Fußgänger:innen in Städten: „Eine charmante Spezies“
Fußgänger:innen sollen in Braunschweig angenehmer von A nach B kommen. Die Stadt macht deshalb bei einem Modellprojekt mit.
Problematische, verkehrskollabierende Durchfahrtsschneisen gibt es in Braunschweig eigentlich nicht, selbst wenn manch einem vielleicht der Bohlweg, an dem das zum Einkaufszentrum wiederaufgebaute Schloss liegt oder die Georg-Eckert-Straße, auf der sowohl Straßenbahnen als auch Autos fahren, dazu zu tendieren scheinen.
Trotzdem möchte die Stadt noch attraktiver für Fußgänger:innen werden und wird Teil eines Modellprojekts. Initiator ist der Fachverband Fußverkehr Deutschland, kurz FUSS. Außer Braunschweig sind auch Erfurt, Flensburg, Meißen und Wiesbaden Modellstädte.
Mittlerweile ist eine dritte Auflage des Projekts „Gut gehen lassen – Bündnis für attraktiven Fußverkehr“ an den Start gegangen, neuerlich mit einer Laufzeit von zwei Jahren und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nuklearer Sicherheit sowie dem Umweltbundesamt gefördert.
Der bundesweit seit den 1980er-Jahren aktive Verein FUSS versteht sich als Lobby der Fußgänger:innen, selbst wenn der Leipziger Ortsvertreter Bertram Weisshaar im Namen der Berliner Zentrale den naheliegenden Vergleich mit dem ADAC nicht so gerne hört. Fußgänger:innen, sagt Weisshaar, seien eine charmante Spezies, die kein großes Aufhebens machten um die Hindernisse, die sich im städtischen Alltag stellen – und deshalb zu wenig beachtet würden.
Wer als Braunschweiger:in aber nun hofft, das Programm möge beliebte Wohnbereiche wie das östliche und das westliche Ringgebiet oder gar die Innenstadt in ihren fußläufigen Qualitäten, möglichen Mängeln und Verbesserungspotenzialen inspizieren, wird enttäuscht. Auserkoren wurde der Stadtteil Wenden, im Norden von Braunschweig gelegen und, durch die Autobahn A2 abgetrennt, in periphere Distanz gerückt.
Vor Ort kursiert ja der Witz, dass ahnungslose Autofahrer:innen den Stadtteil nie erreichen, da sie das Ortsschild als Aufforderung zum Umdrehen missverstehen. Busse und eine Straßenbahnlinie allerdings erreichen ihn zuverlässig. Angekommen, bewegt man sich im Wesentlichen auf der Hauptstraße oder verliert sich in abzweigende Wohngebiete, also insgesamt auch keine angespannte Verkehrssituation.
Dort gesammelte Erkenntnisse, teilte die Stadt Braunschweig mit, sollen für eine weitere Untersuchung des Stadtteils Rautheim, nicht minder peripher südöstlich der Kernstadt durch die A 39 isoliert, „mitgenommen werden“.
Bis Anfang 2023, so von offiziellen Seiten weiter, wird es in den Modellstädten strategische Gespräche mit der Stadtverwaltung, einen Workshop, einen Fußverkehrs-Check, eine Aktion auf der Straße und eine Begehung mit der Kommunalpolitik geben. Zudem werden engagierte Bürger:innen für ihren Stadtteil als „Quartiers-Geher:innen“ gesucht.
Die gesammelten Erkenntnisse will der Verein der Kommune dann Anfang nächsten Jahres in einem Katalog übergeben. In Braunschweig werden sie in einen Mobilitätsentwicklungsplan einfließen, den der kommunale Verwaltungsausschuss im Juni 2019 beschloss. Er ist Bestandteil des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes ISEK, das bis 2030 die Umsetzung diverser identifizierter Entwicklungsvorhaben sicherstellen soll. Braunschweig hat darin die Absicht erklärt, Maßnahmen im Fußverkehr umzusetzen.
Aber ist dieser bürokratische Bohei für eine so naheliegende Sache wie brauchbare, sichere und instandgehaltene Fußwege überhaupt angemessen? Eigentlich ist doch alles recht einfach. Schon seit längerem hat sich die Stadtplanung von der Ideologie einer autogerechten Stadt verabschiedet.
In Hannover etwa begreift man das Erbe der Nachkriegszeit, nämlich die breiten innerstädtischen Durchfahrtstraßen, nun als Chance. Lassen sich jetzt doch prima einzelne Fahrspuren zu geradezu luxuriösen Radfahrwegen umfunktionieren. Mit rotem Asphaltbelag und definierten Übergängen behaupten sie sich selbstbewusst an einer der größten Kreuzungen im Zentrum der Stadt, dem Aegidientorplatz, – ein Beitrag zur Verkehrswende, zweifellos.
Das reicht aber nicht, meint der von der Süddeutschen Zeitung als „Fußgängerpapst“ titulierte, weltweit tätige Stadtplaner, der Däne Jan Gehl. Gerade Fußgänger seien essenziell für eine Stadt, denn sie seien das menschliche Maß, waren die Grundlage traditioneller Stadtplanung. Historische Plätze etwa sind so groß, wie das Auge reicht: 100 Meter – „der soziale Horizont“.
Weisshaar sieht derzeit zwar das Zu-Fuß-Gehen im Aufwind, besonders seit den Corona-Lockdowns. Viele Menschen schätzten den gesundheitlichen Aspekt, stiegen nun drei Haltestellen vorher aus, um ihr tägliches Schrittpensum zu erledigen. Aber eine echte Verkehrswende müsse alle Mobilitätsformen einbeziehen, stets zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs – und gute Formen des Miteinanders schaffen, möchte man als leidgeprüfte Stadt-Fußgängerin selber hinzufügen.
Problematische Monster-Lastenräder
Eine „urbane Seuche“, so sagt es der Verein FUSS, sei auch das Fahrradfahren auf Gehwegen. Ein lange mit Scheu behandeltes Thema, wie Weisshaar es ausdrückt, da Radfahrer:innen eigentlich die natürlichen Verbündeten der Fußgänger:innen sein sollten. Nicht auszudenken, wenn demnächst eine neue Generation Monster-Lastenräder – natürlich mit Elektroantrieb – in die Städte schwappt!
Aber zu Fuß gehen ist mehr als eine Form funktionaler Mobilität zwischen Punkt A und Punkt B. Bleibt zu hoffen, dass bei all den Programmen, Förderungen oder Maßnahmen wie etwa eines „Premium-Wege-Netzes“ gemäß Braunschweiger ISEK die eigentliche Qualität des Gehens nicht vergessen wird: Sie ist nämlich philosophisch intellektueller Natur.
Der österreichische Literat Thomas Bernhard brachte es bereits 1971 in seiner Erzählung „Gehen“ auf den Punkt: „Wir gehen mit unseren Beinen, sagen wir, und denken mit unserem Kopf. Wir könnten aber auch sagen, wir gehen mit unserem Kopf.“
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