Fußballfans bei den Taksim-Protesten: „Wir haben gewonnen“
Laut, fröhlich, kampfbereit und politisch – sagenumwoben waren sie schon immer. In den Tagen des Protests sind die Beşiktaş-Fans endgültig zu Volkshelden avanciert.
ISTANBUL taz | Taylan Kartal ist ein Junge aus gutem Haus. Er ist 29 Jahre alt und hat einen Universitätsabschluss. Auch sein Vater und seine Mutter haben studiert, beide arbeiten, der Großvater war Offizier in der türkischen Armee. Kemalistisch, links, Mittelschicht. Er mag Computerspiele, Techno und englischen Fußball. Die Ereignisse der vergangenen Tagen und Wochen aber haben Taylan Kartal zu einem anderen Menschen gemacht.
Seit Beginn des Aufstands in Istanbul und anderen Teilen der Türkei ist er arbeitslos. Er hat seinen Job in einem Maklerbüro geschmissen, weil sein Arbeitgeber im Ruf stand, der Regierungspartei AKP nahezustehen. Er hat sich Zeit genommen, um seine fristlose Kündigung zu begründen. Die Vertragsstrafe von umgerechnet 600 Euro hat Taylan Kartal in Kauf genommen. Jetzt unterstützen ihn Verwandte und Freunde.
Kartal ist Fan des Istanbuler Fußballklubs Beşiktaş. Und er gehört der Ultravereinigung Çarşı an. Einer Vereinigung, die viele als Schutzmacht des Protests ansehen, die aber von staatlichen Stellen teilweise als „kriminelle Vereinigung“ betrachtet wird. Unter diesem Vorwurf wurden einige von Taylan Kartals Freunden festgenommen, zwei sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Damit hat es auch zu tun, dass Taylan Kartal für diesen Text weder seinen echten Namen nennen noch sich fotografieren lassen will.
„Der Gezi-Park wurde wieder dem Volk übergeben“, meldete der türkische Fernsehsender NTV Anfang voriger Woche. „Derzeit wird es niemandem gestattet, den Park zu betreten.“ Sieben Tage nach der gewaltsamen Räumung bewacht weiterhin ein großes Polizeiaufgebot den Park. Auch der angrenzende Taksimplatz wirkt wie ein Truppenübungsgelände. Schwer bewaffnete Sondereinsatzkommandos haben Stellung bezogen.
„Die führen sich auf, als seien sie eine Besatzungsmacht“, sagt Kartal. Er hat sich am Taksimplatz und in seinem Viertel Beşiktaş an den Barrikadenkämpfen beteiligt und zehn Tage lang im Gezi-Park gezeltet. Doch auch für ihn ist der Ausnahmezustand vorläufig beendet.
Dunkle Ränder unter den Augen
An diesem Donnerstagnachmittag läuft er über den Taksimplatz. Behördengänge. Taylan Kartal ist nicht allzu groß, aber muskulös. Er wirkt wie jemand, der stets die Ruhe bewahren kann, sich aber auch zu verteidigen weiß. Einer, den man in brenzligen Situationen gern an seiner Seite hat. Kartal lacht viel, seine Stimme ist rauchig, und wenn er etwas erklärt, legt er gern kleine Pausen ein, in denen er seinen Zuhörer freundlich anblickt. Dann sieht man die dunklen Ränder um seine Augen noch deutlicher. Er ist erschöpft.
„Ich erinnere mich noch sehr genau an die Kämpfe, die Organisierung im Park, die Solidarität, die dort herrschte“, sagt er und legt wieder eine kleine Pause ein. „Aber ich merke, wie ich Tage und Ereignisse durcheinanderbringe. Seit einer Woche denke ich: Ich muss aufschreiben, was passiert ist, solange die Erinnerungen noch frisch sind.“
Rund um den Taksimplatz ist der Kampf um Erinnerungen schon beendet. Gleich nach der Erstürmung des Gezi-Parks am vergangenen Samstag wurden die Graffitis in der Umgebung, die vom Witz und dem Esprit der Bewegung zeugten, übertüncht. So, als wollte jemand sagen: Es ist nichts passiert.
„Es ist aber passiert“, sagt Kartal. „Und wir haben gewonnen.“ Er sagt das nicht triumphierend, aber bar jeden Zweifels. „Meine Generation hat ihre Lethargie abgelegt. Wir, die wir nie über Politik geredet haben, sprechen plötzlich mit wildfremden Menschen über Politik. Wir hören einander zu, wir können tolerieren, wenn andere Leute andere Meinungen haben. Wir standen zusammen im Gasnebel, deshalb begegnen wir uns mit Respekt. Egal, was aus dieser Bewegung wird: Die Regierung kann nie wieder darauf vertrauen, dass sie tun und lassen kann, was sie will. Künftig wird sie sich bei jedem Vorhaben fragen: Was wird das Volk dazu sagen? Ja, wir haben gewonnen.“
Dieses gesellschaftliche Gespräch, das im Gezi-Park begann, setzt sich seit einigen Tagen in anderen Parks der Stadt, aber auch in Parks in Ankara, Izmir oder Eskisehir fort. Menschen treffen sich Abend für Abend, um sich darüber auszutauschen, wie sie weitermachen. Einige wollen mit einer „Çapulcu-Partei“, einer „Partei der Marodeure“, bei den Kommunalwahlen antreten, andere lehnen es strikt ab, sich parteiförmig zu organisieren. Aber irgendeine Form der Institutionalisierung wollen alle. Als Nächstes will man sich auf ein gemeinsames Manifest verständigen.
„Es ist gut, dass die Straßenkämpfe vorbei sind und wir jetzt reden statt zu kämpfen. Das ist ein ziviler Aufstand, er muss zivile Bahnen finden“, meint Kartal. Und doch hadert er mit der „Taksim-Solidarität“, einem nicht ganz transparenten Zusammenschluss verschiedener Gruppen, der die Besetzung des Parkes koordiniert hatte. Kartal wirft der „Taksim-Solidarität“ vor, sie hätte Absprachen mit der Polizei getroffen und im Vertrauen darauf, dass diese den Park nicht angreifen würde, der Schleifung der Barrikaden rund um den Taksimplatz am Dienstag vergangener Woche zugestimmt. „Natürlich hätten wir die Barrikaden am Ende nicht militärisch halten können. Aber sie waren ein Symbol. Dass sie geschleift wurden, hat die Menschen entmutigt. Deshalb ging ein paar Tage später die Räumung des Parks so leicht über die Bühne.“
Abbasaga-Park wird zu Gezi
Donnerstagabend im Abbasaga-Park im Stadtteil Beşiktaş: Das vierte Treffen in Folge, wieder sind mehr Menschen gekommen als am Vorabend, gut 3.000 dürften es sein, weit mehr, als auf den Steinstufen des Amphitheaters Platz finden. Die Soundanlage ist so laut, dass die Menschen, die in an anderen Ecken des Parks in kleineren Runden zusammensitzen, sich nur mit größter Mühe verständigen können. Erstmals sind Fliegende Händler da, die Getränke und Snacks verkaufen, ein paar linke Zeitungen haben Stände aufgebaut, und einige Leute übernachten bereits hier. Von Tag zu Tag erinnert Abbasaga ein bisschen mehr an den Gezi-Park.
Kartal findet das nicht gut. Nicht nur, weil das Kampieren der Polizei eine Begründung geben könnte, den Park zu stürmen. „Die Menschen aus dem Viertel nutzen diesen Park. Sie gehen hier spazieren, ihre Kinder spielen hier. Ich will nicht, dass sie sich belästigt fühlen.“
Taylan Kartal ist ein Junge aus dem Viertel. Das ist für ihn noch wichtiger als alles andere: Beşiktaş-Fan, Çarşı-Mitglied, undogmatischer Linker, undogmatischer Kemalist. „Ich bin hier nicht als Çarşı-Mitglied, sondern als jemand aus dem Viertel“, betont er.
Beşiktaş ist ein besonderes Stück Istanbul: Der nordwestlich des Taksimplatzes gelegene Bezirk ist eine säkulare Hochburg. In 36 der 39 Stadtbezirke ist die AKP an der Macht, nur drei werden von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP regiert: Kadiköy, das Stadtzentrum der anatolischen Seite, das nordöstlich des Taksimplatzes gelegene Şişli, dessen Bürgermeister seine Gezi-Park Dixieklos aufstellen ließ und seine Müllmänner zur Unterstützung schickte. Und eben das am Bosporus gelegene Beşiktaş.
Das Zentrum von Beşiktaş ist eine typische Mittelschichtsgegend. Wer hier wohnt, ist nicht so reich wie die Leute in den ebenfalls zum Bezirk gehörenden Vierteln Bebek oder Etiler, aber wohlhabender als die meisten anderen Istanbuler. Viele Beamte leben hier, Selbstständige, Unternehmer, Intellektuelle, Studenten. Touristen verirren sich nur selten nach Beşiktaş, Frauen mit Kopftüchern sieht man in den engen Gassen der Altstadt noch seltener, in den Fischrestaurants herrscht eine familiäre Atmosphäre. Nirgends ist es lauter, wenn in diesen Tagen abends um neun auf Pfannen und Töpfen klopfend protestiert wird.
Beşiktaş wurde gehalten
Als in den ersten Tagen des Aufstandes die Straßenkämpfe rund um den Taksimplatz zeitweise nach Beşiktaş überschwappten, war fast das ganze Viertel unterwegs, um das Eindringen der Polizei in die Innenstadt zu verhindern. Tatsächlich gelang es den Sondereinsatzkommandos nicht, aus den heftig umkämpften Hauptzufahrtsstraßen, dem Barbaros-Boulevard am Bosporus und der steil landeinwärts führenden Akaretler-Straße, in die Innenstadt vorzudringen.
Anwohner beteiligten sich am Barrikadenbau, behandelten die Kämpfer, riefen von ihren Balkonen die neuesten Nachrichten durch, die sie im kleinen linken Fernsehsender Halk TV gehört hatten oder sorgten mit Pfannen und Töpfen stundenlang für einen ohrenbetäubenden Lärm. „So ziemlich jeder war dabei, und jeder tat das, was er sich zutraute“, erzählt eine Mittdreißigerin aus der Nachbarschaft. Dass sich in diesen Tagen jeder mehr zutraute, als er selbst je vermutet hätte, lag an den Jungs, die die vorderste Front bildeten: Çarşı, die Ultras von Beşiktaş.
Sagenumwoben waren sie schon immer. In den Tagen des Aufstands sind die Beşiktaş-Fans endgültig zu Volkshelden avanciert – jedenfalls unter jenen 50 Prozent der Bevölkerung, die nicht hinter der Erdogan-Regierung stehen.
Çarşı-Leute waren dabei, als es darum ging, in den ersten Tagen der Parkbesetzung die Fliegenden Händler zu vertreiben – in der „Republik Gezi“ sollte eigentlich kein Geld zählen. Sie schlichteten Streitereien zwischen den miteinander verfeindeten Gruppen und versuchten, für die Sicherheit aller zu sorgen. Nach der ersten Räumung des Gezi-Parks waren sie es, die die Polizeiketten sprengten, den Park zurückeroberten und dafür sorgten, dass sich die Polizei zeitweise völlig aus der Innenstadt zurückzog.
Besonders von sich reden machten Çarşı-Leute mit einer Aktion am Dolmabahçepalast, als einige von ihnen einen Bagger kaperten, mit ihm auf die Wasserwerfer zufuhren und diese verdrängten. Ministerpräsident Recep Tayyip hätte es aus seinem Arbeitszimmer verfolgen können, das er sich in einem Seitenflügel der genau zwischen dem Taksimplatz und dem Zentrum von Beşiktaş gelegenen letzten Residenz des osmanischen Sultans hat einrichten lassen.
Verantwortung statt Wunder
Im Laufe des Protests begann den Ultras ihr Ruf vorauszueilen. So machte in jenen Tagen Mitte Juni, als es in Istanbul ruhig war, in Ankara aber heftige Straßenschlachten tobten, das Gerücht die Runde, dass Çarşı-Leute zur Hilfe eilen würden. Und unter den Menschen, die am Abend der Räumung des Gezi-Parks im Divan-Hotel eingeschlossen waren, brach Jubel aus, als sich die Nachricht verbreitete, die Ultras seien auf dem Weg, um sie rauszuprügeln. „Einen solchen Ruf zu haben, ehrt uns“, sagt Kartal in wenig peinlich berührt. Aber die Leute sollten von Çarşı keine Wunder erwarten: „Wir versuchen nur, unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen.“
Und das kann verschiedene Formen annehmen: Als vor ein paar Tagen der Fernsehsender Halk TV, der im Unterschied zu den großen Sendern die Proteste rund um die Uhr begleitet hatte, wegen Aufwiegelung zur Gewalt zu einer drastischen Geldstrafe wurde, verkündete Çarşı: „Gebt uns eure Kontonummer, wir zahlen das.“ Nein, nein, versichert Taylan Kartal, sie hätten kein Festgeldkonto, von dem sie die Überweisung tätigen könnten. „Aber wenn Halk TV unsere Hilfe brauchen sollte, würden wir das Geld in Beşiktaş sammeln. Und wir würden es zusammenkriegen“, erzählt er beim Spaziergang durchs Viertel.
Dabei grüsst Kartal ständig jemanden; man merkt, dass er hier aufgewachsen ist und wie wohl er sich in seinem Viertel fühlt. Sogar mit Polizisten aus dem hiesigen Revier nickt er sich freundlich zu. „Wir haben mit unseren Polizisten kein Problem. Unser Problem sind die Sondereinsatzkommandos.“
Das Viertel, in dem er lebt, ist vielleicht auch der Grund, weshalb er anders als viele andere Demonstranten keine Islamisierung fürchtet. „Das ist mit der türkischen Gesellschaft nicht zu machen“, sagt er. Er sei auf die Barrikaden gegangen, weil das Land unter Erdogan und der AKP auf eine Diktatur zusteuere.
Dabei sind die Beşiktaş-Fans nicht nur Frontkämpfer und Aufpasser der Bewegung. Im Gezi-Park war die Ecke mit ihren Zelten stets die lauteste, bei den Aufmärschen war ihr Block der fröhlichste. Genau eine Woche vor der Räumung hatten die Fans der drei großen Klubs den Taksimplatz in das gleißende Lila ihrer Bengalos getaucht. Der Aufzug der Beşiktaş-Fans war der größte und bunteste: 40.000 Menschen liefen auf den Platz, mit Fahnen und Bengalos, aber peinlich genau darauf achtend, dass niemand die Blumen auf der Fahrbahnbegrenzung zertrampelt.
Straßenkämpfe kennen sie
Auseinandersetzungen mit der Polizei sind Taylan Kartal und seine Jungs gewöhnt – erst wenige Wochen vor Beginn des Aufstands, am letzten Spieltag der Liga, kam es in Beşiktaş zu heftigen Straßenkämpfen, als die Uniformierten den Fans, die wie immer geschlossen ins nahe gelegene Stadion laufen wollten, den Weg versperrten. Die Fans hatten sich auf ein besonderes Spiel gefreut, das letzte im alten Inönü-Stadion vor dessen Abriss. Noch so ein Tropfen in jenes Fass, das mit den Abrissarbeiten im Gezi-Park überlief.
Erfahrungen mit Barrikadenkämpfen hatten die Ultras jedoch keine. „Als wir rund um den Gezi-Park sie ersten Barrikaden bauten, haben militante Linke uns gezeigt, wie man das macht. Da waren etliche junge Frauen dabei“, erzählt Kartal. „Sehr schöne Frauen.“
Für ihn haben Sprüche wie „Steh nicht rum wie eine Frau“ ausgedient. Bei den früheren Auseinandersetzungen rund um das Stadion seien die Frauen aus seiner Clique noch geflüchtet, sagt er. „Aber im Gezi-Park standen sie in der zweiten Reihe hinter uns und haben uns mit Wasser versorgt und uns Gesicht und Augen mit Talcid-Lösungen und Zitronen abgewischt, um die Wirkung des Pfeffergases zu lindern. Das war für sie eine neue Erfahrung. Und für uns auch.“ Nach einer seiner rhetorischen Pausen fügt er hinzu: „Auch diese Erfahrung wird bleiben.“ Der Straßenkampf als Motor der Gleichberechtigung.
Kartal und seine engsten Freunde – alles junge Männer in seinem Alter, die studiert haben und in Banken, Werbeagenturen oder Computerfirmen arbeiten, liebend gern Fangesänge grölen, ansonsten aber freundlich und wohlerzogen auftreten – gehörten zu den rund 30 Çarşı-Leuten, die als Erste zur Unterstützung der Parkbesetzer kamen. Damals, in den letzten Maitagen, war noch nicht abzusehen, wie militant die Auseinandersetzungen werden würden; dass sich der Konflikt um einen Stadtpark zu einem veritablen Aufstand gegen die Erdogan-Regierung ausweiten würde.
Wer vermutet, dass es den Ultras von Beşiktaş nur um Krawall geht, tut ihnen also Unrecht. Sich an politischen Aktionen zu beteiligen, ist für Çarşı-Leute nichts Ungewöhnliches. Nicht umsonst erinnert das „Ç“ im Logo an eine Sichel, das traditionelle Symbol der Sozialisten, nicht umsonst ist das „A“ zum Anarchie-A eingekreist. Çarşı steht links. Keine 1.Mai-Demo findet ohne sie statt.
„Wir waren schon immer Armenier“
Als nach der Ermordung des armenisch-türkischen Publizisten Hrant Dink die Parole „Wir sind alle Armenier“ skandiert wurde und darauf Fans von Trabzon – jener Stadt am Schwarzen Meer, aus der die Mörder kamen – ein riesiges Transparent mit der Aufschrift „Wir sind alle Türken“ entfalteten, konterte die Beşiktaş-Tribüne mit einem noch größeren Transparent: „Wir waren schon immer Armenier“ – eine Anspielung auf Alen Markaryan, den langjährigen Çarşı-Anführer armenischer Abstammung.
Bei anderen Aktionen ging es um Atomenergie, Rassismus oder Hilfe für Erdbebenopfer. Die Beşiktaş-Tribüne ist nicht nur die lauteste der Welt – vor ein paar Jahren wurde im nur 32.000 Zuschauer fassenden Inönü-Stadion der Weltrekord von 132 Dezibel aufgestellt –, sie ist vermutlich auch die politischste. „Çarşı ist gegen alles außer Atatürk“, lautet eine Parole. Mögen Kemalismus und Anarchismus für andere ein Widerspruch sein, für Çarşı lässt sich beides prima miteinander vereinbaren. „Wir sind die einzigen sozialdemokratischen Anarchisten der Welt“, sagt Taylan Kartal.
Wieder lacht er, doch er meint das ernst. Wenn er über seine politischen Ziele spricht, erkennt man den Sozialdemokraten. Anders als die radikalen Linken ist er weder grundsätzlich gegen Privatisierungen noch gegen ausländische Investoren. „Ich will nur, dass das zum Wohle der Allgemeinheit geschieht und nicht ein paar wenige das Volk ausplündern.“
Wenn es um Fragen der Partizipation geht, merkt man hingegen den Anarchisten. Auch die Organisationsform von Çarşı ist eher basisdemokratisch. Es gibt zwar die Altvorderen, „Abi“, „großer Bruder“, genannt, die die Choreografien im Stadion dirigieren. Aber diese „Abis“ sind keine Kommandanten, erzählt Kartal. „Wir diskutieren in Internetforen und auf dem Kazan, einem Platz in Beşiktaş.“ Und wenn einige Leute von Çarşı entscheiden, an einer Protestaktion teilzunehmen, dann machen sie das – ob mit Çarşı-Logo oder ohne.
Dann erzählt Kartal eine letzte Kriegsanekdote: Beim Rückzug von einer Barrikade mussten die Çarşı-Leute eine große türkische Fahne, die sie dort angebracht hatten, aufgeben. Bei der nächsten Gefechtspause forderten sie die Übergabe der Fahne. Die Polizei ließ sich darauf ein, Taylan und drei seiner Freunde trafen sich auf dem Schlachtfeld mit vier Beamten, die unbewaffnet und mit der Fahne in der Hand rauskamen. Bei dieser Gelegenheit vereinbarte man wegen allgemeiner Übermüdung für den Rest der Nacht einen Waffenstillstand.
Auch für diesen neuen, aufgeklärten Nationalismus stehen Çarşı-Leute wie Kartal: „Ich bin stolz Türke zu sein und ich kritisiere die PKK“, erläutert Taylan. „Aber ich will, dass die die Kurden ihren Platz in der Gesellschaft finden und niemand mehr mit der Waffe in der Hand kämpfen muss.“
Fans mit den meisten Fans
Mitgliedsausweise verteilt Çarşı nicht, und anders als bei den anderen großen Istanbuler Klubs gibt es in Beşiktaş keine rivalisierenden Fanklubs, sondern nur einen. „Wer Beşiktaş-Fan ist, ist auch Çarşı“, meint Kartal. Zwar hinkt sein Verein in der Zahl der Meisterschaften und der Menge der landesweiten Fans der Konkurrenz aus Galatasaray und Fenerbahçe hinterher. Dafür ist Çarşı vielleicht weltweit der Fanklub, der selber die meisten Fans hat.
Auch deshalb erklärte Çarşı vor einigen Jahren die Selbstauflösung. „Zum einen hatten Leute angefangen, mit Çarşı Geld zu verdienen. Zum anderen ging es nur noch um die Fans ging anstatt um den Verein und den Fußball“, erzählt Kartal. „Aber als dann Çarşı-Gruppen aus anderen Stadtteilen erklärten, sie würden unter diesem Namen weitermachen und plötzlich darüber diskutierten, das Anarchie-A aus dem Logo zu entfernen, mussten wir die Selbstauflösung rückgängig machen. Çarşı musste bleiben, wie es immer war.“
Und dazu gehört nicht nur, dass die Beşiktaş-Ultras laut, politisch und wenn es sein muss militant sind. Sie sind auch berühmt für ihren Humor und ihre Kreativität, für ihre witzigen, zuweilen auch derben Lieder. Noch wenn sie sich entschuldigen, weil sich jemand wegen Ruhestörung beschwert hat, tun sie das gerne singend: „Wir sind Beşiktaş / Und ein bisschen irre / Haben wir Sie gestört / Dann tut's uns leid.“ Den Witz haben sie von der Tribüne auf die Straße getragen, es dürfte der wichtigste Beitrag der Çarşı-Leute zu dieser Bewegung sein. Auch der Bulldozer vom Dolmabahçepalast ist bereits in einem Lied verewigt.
Ein Lied, das bleibt
Es ist aber ein Spottlied auf die Polizei, das zum Gemeingut unter den Demonstranten geworden ist, neben einem alten Schlachtruf aus den Siebzigern („Schulter an Schulter gegen den Faschismus“) und der in diesen Tagen geborenen Parole „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“. Dieses Lied entstammt ursprünglich der Beşiktaş-Tribüne: „Los, schieß dein Gas / Los, schieß sein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust.“ Es ist der einzige Gesang, auf den sich Kemalisten und Kurden, Linke und Liberale, Fans von Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş verständigen können. Oder auf das schlichte „Pfeffergas, olé!“, auch das eine Kreation von Çarşı.
Am Donnerstagabend erklärt im Abbasaga-Park ein Psychologe die Wirkung solcher Lieder: „Wenn Menschen, die gerade eben mit Reizgas beschossen wurden, noch mit roten Augen ,Pfeffergas, olé!' rufen, also darüber lachen können, dann verhindert dies Traumatisierungen, die angesichts solcher Erfahrungen leicht passieren können.“ Kartal hört das gern. Er und sein Freund neben ihm nicken sich zu, so als wollten sie sagen: „Das haben wir gemacht.“
Dabei ist Kartal nicht wichtig, wer sich an welcher Stelle an den Kämpfen beteiligt hat. Auch Çarşı kann man nicht vorwerfen, sich in den Vordergrund zu drängen. Zwar ging die noch Initiative für die Parkforen von den Ultras aus, auch der schlaksige Endzwanziger, der seit Tagen die Diskussion im Abbasaga-Park moderiert, soll der Beşiktaş-Fankurve entstammen. Und natürlich sind die drei „Abis“, die am Vormittag aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, an diesen Abend im Park, halten sich aber zurück. „Wir sind hier nicht als Çarşı, sondern als Bürger von Beşiktaş“, sagt Kartal.
Sogar Fans von Galatasaray und Fenerbahçe dürfen kommen
In diesen Tagen tolerieren er und seine Freunde sogar, dass Leute mit Trikots von Galatasaray und Fenerbahçe in ihr Viertel kommen, um an den Versammlungen im Abbasaga-Park teilzunehmen – bis vor einigen Wochen noch undenkbar. „Als Bürger und Teil der Aufstandsbewegung finde ich das gut“, sagt Kartal. „Aber mein Beşiktaş-Herz sagt mir: Zieh denen die Trikots aus und jag sie aus dem Viertel.“
Wie sehr die Erdogan-Regierung die Fußballfans im Allgemeinen und die von Beşiktaş im Besonderen fürchtet, zeigt sich nicht nur in der Anklage gegen insgesamt 22 Çarşı-Leute wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, was mit Flugabwehrgeschützen und anderen schweren Waffen begründet wird, die angeblich bei Hausdurchsuchungen gefunden wurden. Auch bei Erdogans Kundgebung am vergangenen Sonntag waren Fahnen der drei Istanbuler Klubs und von Çarşı zu sehen – allerdings derart schlechte Imitate, dass Çarşı es nicht einmal für nötig befand, dies richtigzustellen.
Dann erzählt Taylan Kartal von einem Gespräch mit seinem Vater. Der hat ihm immer vorgehalten, seine Generation sei unpolitisch, auch zu Beginn des Gezi-Aufstands war er noch skeptisch. „Aber dann hat er mich aber angerufen und gesagt: Junge, macht das, was wir nicht geschafft haben, macht aus diesem Land eine echte Demokratie.“
Was Kartal seinen Kindern erzählen wird? „Nicht davon, dass ich auf Barrikaden gekämpft habe. Ich werde ihnen erzählen, wofür wir aufgestanden sind. Von der Solidarität untereinander. Dann werden wir auch wissen, ob sich das Ganze gelohnt hat, ob wir wirklich gewonnen haben.“
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