Fünfter toter Obdachloser in Hamburg: Mit den Kräften am Ende
Am Freitag starb wieder ein Obdachloser auf der Straße. Der Druck auf die Stadt, die Menschen einzeln unterzubringen, wächst.
Die Häufung der Todesfälle sorgt vielerorts für Entsetzen. Straßensozialarbeiter:innen mahnen, dass immer mehr Obdachlose gegenwärtig mit ihren Kräften am Ende sind – und befürchten ein Anhalten der hohen Todeszahlen, wenn die Stadt nicht eingreift.
Zwar sind die Todesursachen in allen Fällen noch nicht endgültig geklärt, allerdings geht die Polizei in keinem der Fälle von Fremdverschulden aus. Obdachlosenunterstützer:innen sehen die derzeitige Häufung von Todesfällen als Folge der widrigen Umstände für Obdachlose in der Stadt.
Die Todesfälle im Einzelnen: An Silvester war ein vermutlich 48-Jähriger, der sich mit weiteren Obdachlosen oberhalb der Landungsbrücken befand, mittags nicht mehr ansprechbar. Die anderen Obdachlosen alarmierten die Polizei, doch die ankommenden Sanitäter:innen konnten nur noch seinen Tod feststellen.
Der nächste Tote auf der Reeperbahn
Tags darauf entdeckte ein Passant einen auf dem Boden liegenden Obdachlosen am Schanzenpark. Da er auf ein Ansprechen nicht mehr reagierte, rief der Passant den Notarzt. Auch dort konnten die Sanitäter:innen nur noch den Tod des 59-Jährigen feststellen.
Am 2. Januar nahm ein Anwohner auf dem Hauptfriedhof Altona einen Feuerschein wahr. Die Polizei vermutet, dass ein 65-jähriger Obdachloser in seinem Zelt einen Gaskocher – zum Kochen oder zum Aufwärmen – benutzte und das Zelt und seine Kleidung dabei Feuer fingen. Der Mann konnte sich noch aus dem Zelt retten, starb aber noch auf dem Friedhof. „Er ist vermutlich den Verbrennungen erlegen“, sagt Polizeisprecher Florian Abbenseth.
Stephan Karrenbauer, Straßensozialarbeiter
Am frühen Montagmorgen fand ein Anwohner einen Obdachlosen in Altona unter dem Vorbau eines Hauses liegen. Auch er war nicht mehr ansprechbar, auch hier konnten die Sanitäter:innen nur noch den Tod des 45-Jährigen feststellen.
Am Freitagvormittag gegen elf Uhr versuchten von einem Passanten herbeigerufenen Polizist:innen erfolglos, einen Obdachlosen zu reanimieren. Er lag regungslos auf der Reeperbahn, teilt die Polizei mit.
Pandemie beschränkt Hilfsprogramme
Schon seit dem Spätsommer ist laut Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter beim Obdachlosenprojekt Hinz & Kunzt, die Verelendung vieler Obdachloser auf den Straßen zu sehen gewesen. Das Sterben habe unmittelbar mit der Pandemie zu tun: Viele Einrichtungen konnten seither nicht mehr ihr volles Hilfsprogramm anbieten; Obdachlose seien auf sich allein gestellt.
„Die Akkus sind bei vielen jetzt komplett leer“, sagt Karrenbauer. Johan Graßhoff, Sozialarbeiter bei der Diakonie, bestätigt das. Die Pandemie habe die Lage immer dramatischer werden lassen. „Viele resignieren“, sagt Graßhoff.
Trotz des seit Anfang November laufenden Winternotprogramms blieben Karrenbauer zufolge tagsüber wie nachts weiter vergleichsweise viele Obdachlose draußen. „In den Massenunterkünften haben viele Angst vor einer Infektion“, sagt Graßhoff. Die Sozialbehörde betont allerdings seit dem Beginn des Programms, dass eine Infektion nicht mehr als anderswo zu befürchten sei.
„Wir streben eine lockere Belegung in Zwei- und Dreibettzimmern an“, betonte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) zum Start des Programms. Es gebe „ausreichend Platz“ für obdachlose Menschen. Ein „niedrigschwelliges Angebot vor nächtlicher Erfrierung“, so schreibt es die Sozialbehörde auf ihrer Homepage, sei damit gegeben.
Doch nach Ansicht von Graßhoff und Karrenbauer brauchen Obdachlose, gerade angesichts zurückliegender anstrengender Monate, mehr Ruhe. „In einer Massenunterkunft sind viele Menschen und es ist laut – da kann niemand zur Ruhe kommen“, gibt Graßhoff zu bedenken.
Keine Reaktion der Sozialbehörde
Immerhin rund 120 Obdachlose kommen derzeit in Hotelzimmern unter. Das von mehreren Vereinen und Organisationen initiierte Projekt „Hotels for Homeless“ hat mithilfe von Spenden die Hotelzimmer angemietet. Bereits im Frühjahr, während der ersten Welle, ermöglichten Spenden befristete Übernachtungen für Dutzende Obdachlose. „Wir haben mit den angemieteten Hotelzimmern nun aber unsere Kapazitätsgrenzen erreicht“, sagt Karrenbauer.
Karrenbauer und Graßhoff unterstützen eine Forderung der Linksfraktion: „Der Senat muss noch in dieser Woche damit beginnen, erste Hotelzimmer für die Betroffenen zur Verfügung zu stellen“, fordert deren Sprecherin Stephanie Rose.
Auch die CDU-Fraktion hatte das in den vergangenen Monaten gefordert. „Ich fürchte andernfalls, dass das nicht die letzten Toten diesen Winter gewesen sein werden“, sagt Karrenbauer. Im vergangenen Winter waren mindestens neun Obdachlose auf der Straße verstorben.
Die Sozialbehörde reagierte, auch auf Nachfrage der taz, bislang nicht auf diese Forderung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen