Fünf Tipps für die Sommerlektüre: Das sind Geschichten
Was gibt es Besseres, als am Strand, auf dem Balkon oder im Café zu lesen? Fünf Romane von Nava Ebrahimi, J. L. Carr, Julia Weber, Martin Spieß und Brian Sewell.
Wenn die Kos etwas zum Herzeigen wäre
„Sechzehn Wörter“ heißt Nava Ebrahimis grandioser Debütroman. Jedes Kapitel ist mit einem Wort aus der Muttersprache der in Köln lebenden Mona überschrieben. Wörter, die Mona plötzlich überfallen. Wörter, die Monas Großmutter benutzt, die im Iran lebt. Wörter, die das Familiengeheimnis schützen. Denn was geschah, als die Großmutter ihre erst dreizehn Jahre alte Tochter einem Mann gab, findet Mona erst am Ende heraus. „Im Unübersetzten hatte der Schwindel es sich herrlich einrichten können.“
Mona macht sich also ans Übersetzen dieser Wörter, überlässt es aber der Leserin, ihre Bedeutung zu erschließen. Maman-Bozorg muss wohl die Großmutter sein, und Morde-Schur die Leichenwäscherin, die zum Einsatz kommt, als Großmutter stirbt „wie ein einsamer Deutscher“: allein vor dem Fernseher. Was Kos heißt, kann man ahnen, wenn man Kurdisch, Urdu, Arabisch oder Hebräisch versteht: „Wenn die Kos etwas zum Herzeigen wäre, dann hätte der liebe Gott sie auf die Stirn getan.“
Die Großmutter benutzt Wörter wie Kos, als sei es das Normalste von der Welt. Sie beneidet ihre Enkelin, die in Azadi frei von den Fesseln der Religion leben kann. Sie wundert sich, dass Mona nur einen Khastegar vorweisen kann, sie selbst hat einige Verehrer. Mona hat einen deutschen Freund, aber auch einen iranischen Liebhaber. Die Frauen im Iran klagen, es gebe keine anständigen Khastegars mehr. „Sie rauchen entweder Tag und Nacht Opium, sind Muttersöhnchen oder arbeitslos oder alles zusammen.“
Nava Ebrahimi: „Sechzehn Wörter.“ BTB Verlag, München 2017. 320 Seiten, 18 Euro
„Sechzehn Wörter“ lässt das Allgemeine im Individuellen hervortreten und erzählt genauso viel über die Islamische Republik wie über Deutschland. Mona philosophiert über hadernde Juristentöchter und strauchelnde Arztsöhne, die „darüber verzweifelten, dass sie in ihren Biografien keinen Grund für ihr Hadern und Straucheln fanden, weil ihre Eltern sogar die Sache mit dem Nazi-Opa schon abgefrühstückt hatten“. ULRICH GUTMAIR
Ein neues Buch vom Meister der leisen Wehmut
J. L. Carr war Lehrer in der Provinz, als er 1966 im Alter von 54 Jahren einen kleinen Verlag gründete und sechs Romane schrieb, darunter „Ein Monat auf dem Land“, für den er für den Booker-Preis nominiert wurde, und der, als er im letzten Jahr auf Deutsch erschien, völlig zu Recht als „überwältigendes kleines Meisterwerk“ gefeiert wurde.
Diese hinreißend melancholische Geschichte handelt von einem jungen Kriegsheimkehrer, der einer verlorenen Liebe nachtrauert. Carr erzählt sie so unaufgeregt, leicht, luftig, dass man die Bienen summen hört und die Wiese spürt, auf der man an einem angenehm warmen Sommertag liegt und glücklich vor sich hin döst.
Nun ist das zweite Buch des Autors übersetzt worden: „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“, genau genommen den FA Cup, einen englischen Wettbewerb, an dem Mannschaften aus allen Ligen teilnehmen können, also auch die Steeple Sinderby Wanderers. Was schon Mitte der 70er, als der Roman geschrieben wurde, sehr unwahrscheinlich war, ist heute undenkbar. Aber das macht nichts, auch nicht, dass Zweifel nicht ganz unberechtigt sind, ob die revolutionären Ideen zur Erneuerung des Fußballs eines aus Ungarn geflüchteten Professors funktionieren können. Auch die anderen Kniffe J. L. Carrs, die Geschichte glaubhaft zu machen, sind nicht entscheidend. Denn hier geht es um Leute vom Land, die nicht mit besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften aufwarten können, als Underdogs aber an ihrer Aufgabe über sich hinauswachsen und einen Traum wahr werden lassen.
J. L. Carr: „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, Köln 2017, 190 Seiten, 20 Euro
J. L. Carr zeichnet aus der Perspektive eines wider Willen zum Vereinschronisten ernannten Mannes die Protagonisten in all ihrer Liebenswürdigkeit, die immer ein wenig unbeholfen wirken, weil sie Fremdkörper im Geschäft des großen Fußballs sind, aber auf dem Teppich bleiben. Man muss nichts von Fußball verstehen, um diese Erzählung zu lieben. KLAUS BITTERMANN
Welt ohne Mutter, mehr mit Tieren als mit Menschen
Wie fühlt es sich an, Kind einer Frau zu sein, die ihre Mutterschaft bereut? In ihrem beeindruckend geschriebenen Debütroman „Immer ist alles schön“ beantwortet die Schweizer Autorin Julia Weber diese Frage mittels eines etwas beklemmenden, aber zugleich märchenhaften Kammerspiels.
Chatverläufe, Likes sammeln und Selfie-Sticks: Das Smartphone wird zehn. Die taz.am wochenende vom 22./23. Juli zeigt, wie sich durch Wischen und Snappen die Welt von Kindern und Jugendlichen verändert hat. Außerdem: Ein Gespräch mit Barbaros Şansal, türkischer Modedesigner und Aktivst über die First Lady Emine Erdoğan und Fäkalsprache. Und ein Selbsttest: fleischloses Wurstvergnügen zur Grillsaison. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Anais und Bruno vermissen ihre Mutter, obwohl sie da ist. Sie sind die Kinder einer Frau, deren Körper morgens glitzert und nach Alkohol riecht. Mutter Maria geht tanzen, um Sehnsüchte zu erfüllen, aber auch um Geld zu verdienen. Ihren Alltag bewältigt sie mit Alkohol.
Das Leben der Kinder spielt sich in einer Wohnung ab, von deren Decke Fäden hängen – „um den Kopf zu berühren, um den Kopf nicht zu vergessen“. Anais und Bruno haben eine Märchenwelt erschaffen, in der dunkle Zimmer zu bunten Wäldern, Wüsten und Gebirgen werden. Mit Hilfe ihrer Fantasie halten die Geschwister am Glauben an eine schöne, heile Welt, „mehr mit Tieren als mit Menschen“, fest. Die gilt es zu beschützen: vor einem behaarten Mann, der nach einer Nacht mit der Mutter aus den Poren tropft, und vor dem „Riesen“ vom Jugendamt.
Sprachlich erinnert Julia Webers Debütroman in seiner eindringlichen Tier- und Körpermetaphorik an Herta Müller. Maria nennt sich „Muttertier“, das es manchmal bereut, seine „Tierchen“ geboren zu haben. Ihre Kinder nehmen sich als konturlos wahr: „Beim Gehen habe ich das Gefühl, als hinge ich seitlich aus mir raus.“
Julia Weber: „Immer ist alles schön“. Limmat Verlag, Zürich 2017. 256 Seiten, 24 Euro
„Immer ist alles schön“ beleuchtet eine kaputte Familie von innen, ohne anzuklagen. Ein Roman, den man gern liest und so schnell nicht vergisst. NORA VOIT
Durchs Wendland streunen und in Zitaten sprechen
Jäger und der Erzähler sind beste Freunde und im Landkreis Lüchow-Dannenberg unterwegs, um gegen die Castortransporte zu demonstrieren. Beide sind Schriftsteller; der Erzähler hat schon vier Bücher geschrieben, findet aber keinen Verlag. Jäger kämpft noch mit seinem ersten Buch.
Mit gefälschten Presseausweisen, ausgestellt auf die Namen ihrer Lieblingsschauspieler aus der Serie „Dr. Who“, kommen sie durch die Polizeikontrollen. Sie sind auch hier, um Frauen aufzureißen, um Geschichten zu erleben, die sie dann aufschreiben können. Sie kiffen viel und sprechen in Zitaten aus Fernsehserien und Popsongs. Ihnen geht es um das Verhältnis von Geschichten und Leben. Geschichten haben eine Form, und sie enden schlecht.
Die jungen Männer treffen auf freundliche Bewohner der Gegend. Hank und Karen, linke Anwälte, laden sie ein, bei ihnen zu übernachten, und erzählen, wie es gewesen war in der „Republik Freies Wendland“. Beim Essen raucht man vom Selbstangebauten. Beim Lesen denke ich an die Zeit, als ich auf einem besetzten Platz gewohnt hatte; an zwei nette Kiffer, die von den Bewohnern dazu aufgefordert worden waren, ihr Fähnchen mit dem Marihuanablatt wieder wegzutun.
Andere Bewohner des Landkreises erzählen von den Orten, an denen sie leben. Es gibt Rückblenden, eine Liebesgeschichte und ein Unglück bei der Räumung einer Blockade.
Martin Spieß: „Und bis es so weit ist, gibt es Eiscreme“. Culturbooks, Hamburg 2017. 240 Seiten. 15 Euro
Der Roman endet gut, gibt sich aber in Unwahrscheinlichkeiten als ausgedacht zu erkennen. Man liest die schön gearbeitete Konstruktion mit spiegelbildlich wiederkehrenden Konstellationen sehr gern und genießt es, wie sich die Helden und Heldinnen der Geschichte am Ende noch einmal verabschieden. Nur auf den Absatz, in dem gesagt wird, dass Kiffen schlecht für Jugendliche sei, hätte Martin Spieß verzichten sollen. DETLEF KUHLBRODT
Wie reist man mit Eselin von Peschawar nach Hause?
Ein Engländer, Tierfreund und Kunstsammler, sieht eine Eselin an einer Straße in Peschawar stehen. Sie ist noch sehr klein, hat aber schon Lasten transportiert, die ihren Rücken verletzt haben. Der Engländer möchte ihr helfen, doch seine Gefährten drängen zum Aufbruch, sie wollen weiter – zum Flughafen und dann nach Hause. Der Engländer beharrt darauf: Die Eselin muss mit! Das geht nicht. Dann gehe ich eben zu Fuß mit ihr, sagt er. Und tatsächlich macht er sich mit ihr auf den Weg.
Das ist der Inhalt der kleinen Reisegeschichte von Brian Sewell, den der Guardian als Englands „berühmtesten und umstrittensten Kolumnisten“ bezeichnet. Er starb 2015, scheint aber zuvor die Eselin in Peschawar wirklich getroffen zu haben und über Persien, Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Deutschland nach London gereist zu sein.
Die Geschichte, die er daraus gemacht hat, ist ebenso leicht erzählt wie kitschig. Ich habe sie gern gelesen, auch weil ich einmal mit einer Eselin vom Brenner nach Arezzo gegangen bin. Mich interessierte diese Reise des Engländers, der schnell davon abkommt, zu Fuß zu gehen: Seine kleine Eselin, die er wegen ihrer lange Beine nach der berühmten Balletttänzerin Pawlowa nennt, ist noch zu jung, um mehr als fünf Meilen am Tag zu gehen, weswegen er mit ihr quasi per Anhalter fährt, was gut klappt, denn im Orient hat man nichts gegen Tiere in Autos, Bussen und Zügen.
Im Übrigen bleibt seine kleine Eselin immer dicht bei ihm und lässt sich mit allem Möglichen füttern. Mein erwachsener Esel guckte dagegen in jede Hofeinfahrt und offene Tür, lief vor und blieb zurück und war auch nicht sonderlich anschmiegsam.
Brian Sewell: „Pawlowa: oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt“. Insel Verlag, Berlin 2017. 172 Seiten, 14 Euro
Die Bemerkungen des Erzählers über seine Eselin beziehen sich meist auf Praktisches. In dieser lauten und verrohten Menschenwelt „kommuniziert“ man wenig mit dem Begleittier, denkt aber ständig besorgt um es herum: Wird der entgegenkommende Lkw, dessen Fahrer idiotischerweise hupt, das Tier in Panik versetzen? Sewells Sommerroman endet glücklich in London. HELMUT HÖGE
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