Frisuren im Lockdown: Wuchernde Haare der Freiheit
Im Lockdown haben die Friseure zu und es wallt und sprießt überall auf den Köpfen. Erlebt der Vokuhila eine Renaissance?
I ch habe immer vermutet, dass meinem Freund lange Haare stehen. Nun habe ich den Beweis. Und ich musste ihn gar nicht drängen. Drängen ist in einer Beziehung ja nie gut. Geduld ist der Goldstandard. Irgendwann würde es wundersamerweise dazu kommen, dass er es wallen lassen würde, ich hatte da Gottvertrauen. Und nun … Sie wissen schon. Frisöre zu, und allein traut er sich nicht dran. Die Krux des Kurzhaarschnitts. Sehr kompliziert nachzuschneiden.
Ich hatte längst vermutet, dass vielen Leuten lange Haare stehen. Auch da hatte ich recht. Und ich musste nicht drängen. Ich konnte mich ganz ruhig zurücklehnen und den Lockdown sein Wunderwerk machen lassen, bis es nur so wallte und sprießte.
Ich persönlich war seit 27 Jahren nicht mehr beim Haarformer. Vor 27 Jahren waren ja noch die 90er, im Grunde die Ausläufer der 80er, vor allem auf dem hessischen Dorf, in dem mich die damalige Haarformerin nachhaltig traumatisiert hat. Salon Daggy. Meine Haare sind wie Wolle, die lassen sich nicht in einen Minipli pressen, so dass ich mit einer voluminösen Fönfrisur von dannen schreiten musste.
I remember you. Wie eine missratene Blutabnahme, die einen für immer mit tiefem Misstrauen eine Klinik betreten lässt, so betrete ich Frisörstuben, nämlich gar nicht. Dass Frisöre seit Monaten geschlossen haben, bekomme ich so wenig mit wie geschlossene Kindergärten, ich weiß mich sehr privilegiert.
Vornekurzhintenlang
Ich trage also seit 27 Jahren einen Vokuhila: Vornekurzhintenlang. Ich habe diesen Begriff selbst seit Jahren nicht mehr gehört, es taugt anscheinend nicht mal mehr als Witz. Aber auch hier bin ich privilegiert, denn wenn man glaubt, sich über Vokuhilas bei Männern scheckig lachen zu dürfen, komme ich ungeschoren davon. Ich habe halt einfach hinten lang und vorne Pony.
Apropos Pony. Mein Freund leiht sich mittlerweile die Haargummis seiner Tochter aus. Zuerst eines für die lange Strähne, die ihm am Schreibtisch immer ins Gesicht fiel, dann zwei: eins für vorn, eins für hinten. Er ist da nicht sehr eitel. Mir kann’s recht sein, wenn er wie ein Einhorn durch die Wohnung schreitet. Ein Einhorn ist er ja eh, so wie alle Männer irgendwie Einhörner sind. Aber ich schweife ab.
In öffentlichen Verkehrsmitteln stehe ich gern im Gang. Auch wegen Corona, weil ich mir einbilde, dass die Luft da oben klarer ist. Ich stehe aber auch gern, weil ich so die Köpfe der anderen Mitfahrer:innen begutachten kann. Eine ältere Dame mit violett gefärbten Haaren schmückt dort, wo sich ihre Haare teilen, eine silberne Linie, der Nebenmann spielt mit seinen Fransen im Nacken.
Der Hippie in uns
Und mir wird erst jetzt klar, wie oft die Leute zum Frisör gehen und sich ohne ihn wohl sehr hilflos fühlen. Denn das Beste an meinem Haarschnitt: kann man selbst schneiden. Ganz unkompliziert. Vielleicht wird es nun eine Renaissance des Vokuhilas geben, oder werden wir ab jetzt einfach den Hippie in uns entdecken? Für ein 60er-Jahre-Revival wird es so oder so langsam Zeit. Ideologisch und stylisch. When the moooon is in the second house, and Juuupiteeer aligns with Mars. Then Peeeeace and uuunderstanding and love will stir the stars. Sie wissen schon.
Aber zurück zu meinem Freund. Wenn ich seine Haarpracht bewundere, habe ich immer den Eingangssong „Aquarius“ aus dem Musical „Hair“ im Kopf. Ungeahnte Potenziale. Ich habe mich sogar schon dabei erwischt, dass ich den Song summe, wenn wir zusammen spazieren gehen. Mittlerweile summt er mit. Ich summe den Song auch in der U-Bahn, wenn ich die wuchernden Haare der Freiheit der anderen bestaune. Ein neues Zeitalter wird anbrechen. Aquarius. Aber ich schweife ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen