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Friedenspreis für Karl SchlögelAller Kriegserschöpfung zum Trotz

Viel Beifall für Karl Schlögel, als ihm in der Paulskirche der Friedenspreis zuerkannt wurde. Der Historiker widmete die Auszeichnung der Ukraine.

Friedenspreisträger Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche Foto: Hannes P. Albert/dpa pool/dpa

Ein Stuhl musste frei bleiben. 719 Menschen hatten am Sonntag um elf Uhr am Vormittag Platz genommen, frei blieb der Platz vom vormaligen Friedenspreisträger Boualem Sansal, festgehalten aus nichtigen, jedenfalls außenpolitisch, aus Perspektive der islamistischen Machthaber in Algier gewichtigen Gründen in einem algerischen Gefängnis.

Heute galt es, den vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Menschen auszuzeichnen, Karl Schlögel, Historiker und Essayist. Er sollte in diesen fünf Viertelstunden noch viel, nicht immer rauschenden Beifall bekommen, aber jetzt zum Gang in die erste Reihe prasselte es tüchtig.

So viele waren da, auch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, Schlögels Freund Gerd Koenen, Thea Dorn und Deniz Yücel vom PEN Berlin, Raphael Gross vom Deutschen Historischen Museum.

Eine Friedenspreisverleihung ist immer auch Teil des politisch-kulturellen Protokolls des Jahres, am Schlusstag der Buchmesse, diesmal im 75. Jahr: Der Preis ist ein Prädikat bundesdeutscher Selbstverständigung – hier steht unsere Republik, es wird justiert, aber Völkisches, so das eiserne Selbstverständnis, hat keinen Platz. Von den politischen Parteien sind alle zugegen, die AfD offiziell jedoch nicht.

Hinschauen will gelernt sein

Mit Karl Schlögel erhält ein Historiker den Preis, der sich als Autor und Historiker gegen alle bundesdeutschen Umstände bis zum Fall des Eisernen Vorhangs für einen Kontinent, für eine Landschaft interessierte, sie zu erkunden und beschreiben wusste, wie dies nicht üblich war: Hier, auch in Frankfurt am Main, hörte die kulturelle Wahrnehmung im Mainstream an den Sicherheitslinien des Kalten Kriegs auf.

Schlögel, sagte seine Laudatorin Katja Petrowskaja, habe unsere Augen geöffnet. Und zwar weil er seinen Schreibtisch jeweils verließ, als Professor an der Nachwendegründung der Viadrina in Frankfurt (Oder) ermunterte, die östlichen Landschaften zu bereisen, dort zu „lesen“, was zu entziffern ist.

Er meinte: hingucken und erkennen können – das will auch gelernt sein, das ist nicht auf den Oberflächen zu finden, diese müssten, so Petrowskaja, nur ein wenig aufgekratzt werden, um andere Universen, andere Geschichten, andere „Materialien“ des Gewesenen lesen, aufspüren, deuten zu können.

Beifall für sie alle, schließlich Karl Schlögel selbst, sichtlich bewegt von der Ehre, ohnehin kein lauter Charakter, am Redepult schien er in Schüchternheit zu versinken – ehe er dann vorzutragen begann: Dass es immer noch viel zu viel Sprechen gebe über die möglicherweise diplomatisch einzuhegenden Kriegsdirigate Wladimir Putins, dass die Grauen, die Putins Truppen über die Ukraine bringen, unverstanden, sinnlich unbegriffen bleiben, weil man eigentlich in Ruhe gelassen werden möchte, im Westen, wo der Angriff des putinschen Regimes auf die Ukraine oft als innerpostsowjetische Angelegenheit missverstanden werde.

Erheblicher Beifall

Schlögel bekam Beifall für die Passage, dass in den dreißiger Jahren Autoren wie Fraenkel, Neumann, Adorno und Horkheimer und später Arendt darum rangen, das Nationalsozialstistische (wie auch das Stalinistische) diskursiv zu begreifen – und doch, notgedrungen, immer auch ein wenig scheiterten. Er widmete seinen Preis im Übrigen der Ukraine, den ukrainischen SoldatInnen. „Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat.“

Beifall, erheblicher. Und weil er die Ukraine und ihre Leute kennt, bei Reisen kennengelernt, sagt er: „Stoische Gelassenheit ist für sie ein Luxus. […] Auszuhalten, durchzuhalten, der unsäglichen Erschöpfung zum Trotz – das ist die Revolution in Permanenz.“

Und zum Ende appelliert er: „Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen heißt, furchtlos und tapfer zu sein, vielleicht auch siegen lernen.“ Starker Applaus, sehr starker.

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