Freiheitskämpfe im März 1848: Die große Hoffnung
Im revolutionären März 1848 kommt der polnische Freiheitskämpfer Ludwik Mierosławski in Berlin frei. Zum Jubel der Bevölkerung. Er dauert nicht lang.
D ie Barrikadenkämpfe rund um das Berliner Schloss sind schon zwei Tage her. 270 Menschen sind erschossen oder von Bajonetten getötet worden, doch die Euphorie kennt an diesem 20. März 1848 keine Grenzen. Vor dem noch gar nicht offiziell eingeweihten Gefängnis in Moabit warten Tausende auf die Freilassung des prominentesten Gefangenen.
Ludwik Mierosławski, damals 34 Jahre alt, war ein Jahr zuvor zum Tod durch das Fallbeil verurteilt worden, und nun, da sich die Tore des Gefängnisses öffnen, ist er ein freier Mann. Als er die Kutsche besteigt, die ihn in einem Triumphzug durch das revolutionäre Berlin bis zum königlichen Schloss bringen soll, kennt der Jubel keine Grenzen. Es hätte der Beginn einer europäischen Heldengeschichte sein können.
Auf einem Holzstich ist die Szene zu sehen. Mierosławski hält eine schwarz-rot-goldene Fahne in der Hand, die Farben der deutschen Freiheits- und Demokratiebewegung. Auch die weiß-rote polnische Fahne wird hochgehalten. Für die Berlinerinnen und Berliner ist das kein ungewöhnlicher Anblick. Seit dem gescheiterten Novemberaufstand von 1830 und 1831 gegen die russische Zarenherrschaft gelten die polnischen Aufständischen in Europa als Helden. Traurige und geschlagene Helden zunächst, wie sie Dietrich Monten in seinem Gemälde „Finis Poloniae“ 1831 dargestellt hat. Doch noch ist Polen nicht verloren. Der niedergeschlagene Aufstand tat der sprichwörtlichen Polenbegeisterung in Deutschland keinen Abbruch, eher hat er sie entfacht. Und nun der Höhepunkt. Im März 1848 soll die Revolution nicht nur Deutschland vom Absolutismus befreien, sondern auch die unterdrückten Völker Europas. Dem Zug der Kutsche vom Moabiter Gefängnis zum Stadtschloss folgen nach Zeitungsangaben unglaubliche 100.000 Menschen.
Ludwik Mierosławski, Sohn des emigrierten polnischen Offiziers Adam-Gaspard Mierosławski und der Französin Camille Notté de Vaupleux, war festgenommen worden, weil er 1846 in Posen einen Aufstand gegen Preußen angezettelt hatte. Er war einer von 254 Polen, denen ab dem 2. August 1847 in Berlin der Prozess gemacht wurde. Die Anklage lautete auf Hochverrat. In Berlin sollte er als „Polenprozess“ in die Geschichte eingehen, in Polen wird er proces berliński genannt, Berliner Prozess.
Schon damals war Mierosławski eine charismatische Gestalt. Vor allem die Berlinerinnen umschwärmten ihn. „Neun Zehntel unserer heiratsfähigen Damen würden Herrn Mierosławski heiraten“, schrieb der Braunschweiger Leuchtturm im August 1847 über den berühmten Moabiter Häftling. Das Interesse am Prozess war riesig, die preußischen Behörden, die die Symbolik des Verfahrens offenbar unterschätzt hatten, hatten alle Mühe, den Ansturm auf die 500 Zuschauerplätze in geordnete Bahnen zu lenken. Selbst Polizei und Armee mussten eingesetzt werden. Es war nichts Geringeres als der Beginn einer europäischen Öffentlichkeit, dem die Beobachter damals beiwohnten. Die demokratischen „Vaterlandsblätter“ schrieben: „Die Augen von ganz Europa sind auf den Ausgang dieses Riesenprozesses gerichtet.“
Einen Tag nach Prozessbeginn trat Ludwik Mierosławski selbst auf. Über seine Verteidigungsrede schrieb die Deutsche Zeitung: „Der Vortrag und Aktion waren feurig und bewegt und übten auf die Landsleute ebenso mächtige Wirkung aus, wie auf die Zuhörer, die des Polnischen unkundig, ihn nur mit den Augen, nicht mit den Ohren vernahmen.“ Auch die Schriftstellerin Bettina von Arnim setzte sich für ihn ein, sie schrieb einen Brief an den preußischen König Friedrich-Wilhelm IV. Doch das alles half nicht. Am 2. Dezember 1847 wurden Ludwik Mierosławski und sieben weitere Angeklagte zum Tode verurteilt, weitere 97 Polen erhielten lange Haftstrafen.
Kundgebung: Auch dieses Jahr findet am 18. März in Berlin eine Kundgebung statt. Beginn ist um 15 Uhr am Brandenburger Tor auf dem Platz des 18. März. Dabei sind Ralf Wieland, Präsident des Abgeordnetenhauses, die Bundestagsabgeordneten Petra Pau und Linda Teuteberg, Eberhard Diepgen, die Schülerin Sina Cobbers sowie Igor Kąkolewski vom Zentrum für Historische Forschung. Moderieren wird der unermüdliche Streiter für eine Würdigung des 18. März, Volker Schröder.
Gedenktag: Der Platz des 18. März wurde im Jahr 2000 feierlich eingeweiht. Dass dahinter die Jahreszahl 1848 fehlt, war der Kompromiss, den die Initiative um Volker Schröder eingehen musste. Denn am 18. März 1990 fand auch die erste freie Volkskammerwahl in der DDR statt. Weil ein Feiertag am Tag der Märzrevolution in Berlin bislang nicht in Sicht ist, fordert die Initiative nun einen Gedenktag.
Preußen und Posen
„Ich bin schon erstaunt darüber, dass Ludwik Mierosławski in Posen heute kaum präsent ist“, sagt Dorota Danielewicz. „Es gibt zwar in Warschau und in Bydgoszcz eine Mierosławski-Straße, nicht aber in Posen.“
Dorota Danielewicz ist in Posen, heute Poznań, geboren und lebt seit den Achtzigern in Berlin. Die Schriftstellerin und Publizistin hat vor vielen Jahren schon ein Buch über die Geschichte der Polen in Berlin herausgegeben, sie kennt die Erinnerungskulturen in beiden Ländern. Sie selbst, sagt sie, war von Mierosławski immer fasziniert. „Wenn man sich die Zeichnungen anschaut, war er ein gutaussehender Mann mit langen Haaren, charismatisch“, lächelt sie. „Heute würde ich sagen, er steht für den revolutionären Geist der Polen, den wir wieder bei den Frauenprotesten gegen das Abtreibungsverbot sehen.“
Dennoch weiß Danielewicz allzu gut, dass dieser revolutionäre Geist nur selten erfolgreich war. „Nach der gescheiterten Märzrevolution begann in Posen der Kulturkampf von Bismarck gegen die polnische Bevölkerung“, erklärt sie. „Es war im Grunde eine Germanisierung, in den Schulen durfte kein Polnischunterricht mehr stattfinden.“
Posen gehörte seit den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts zum preußischen Herrschaftsgebiet. Preußen, Russland und Österreich hatten die polnisch-litauische Adelsrepublik erstmals 1772 unter sich aufgeteilt, nach der zweiten und dritten Teilung 1793 und 1795 war Polen von der europäischen Landkarte verschwunden. Die Niederlage von Tadeusz Kościuszko, dem Anführer des polnischen Aufstands von 1793/94, bildete das Motiv des Gemäldes von Dietrich Monten. „Finis Poloniae“, das Ende Polens, soll Kościuszko damals gesagt haben. Auf den Barrikadenkämpfen gegen den preußischen Absolutismus im März 1848 dagegen sangen die Revolutionäre den berühmten Dąbrowski-Marsch, die spätere polnische Nationalhymne: „Jeszcze Polska nie zginęła“: „Noch ist Polen nicht verloren“.
Vielleicht kann man diese These wagen: So wie es den Fall der Berliner Mauer 1989 nicht ohne die Erfolge der polnischen Solidarność gegeben hätte, wäre die Berliner Märzrevolution nicht denkbar gewesen ohne die Polenbegeisterung der deutschen Revolutionäre. Und auch nicht die Befreiung von Ludwik Mierosławski am 20. März 1848.
Auf dem Höhepunkt der Barrikadenkämpfe in der Nacht vom 18. auf den 19. März 1848 trifft sich in der Taubenstraße 6 eine Gruppe von politisch aktiven polnischen und deutschen Studenten und Beamten. Sie haben den „Polenprozess“ im Jahr zuvor aufmerksam verfolgt und schreiben nun eine Petition an den preußischen König, die sie ihm am 19. März überreichen. Andere, wie die Arbeiter der Borsigwerke, fordern gar eine gewaltsame Befreiung der inhaftierten Polen aus dem Moabiter Gefängnis.
„Die Nachricht von der Übergabe der Petition verbreitete sich blitzartig in ganz Berlin“, schreibt die Historikerin Daniela Fuchs. „Schon am Morgen des 20. März versammelten sich Menschenmassen vor dem Schloss. Es wurden Stimmen laut, bei Ablehnung das Gefängnis zu stürmen.“ Unter dem Druck der Menge gibt Friedrich Wilhelm IV. schließlich nach. „Ein Augenzeuge berichtete, dass alles, was Beine hatte, zum Moabiter Gefängnis eilte, um die befreiten Polen zu begrüßen. Überall hörte man die Rufe ‚Es lebe Polen!‘, ‚Es lebe die Freiheit!‘, ‚Es lebe Deutschland!‘.“
Nach seiner Freilassung hält Ludwik Mierosławski eine Rede. Es ist der Moment, den der Holzstich festhält. „Nicht du, edles deutsches Volk, hast meinem unglücklichen Vaterlande Fesseln geschmiedet; deine Fürsten haben es getan; sie haben mit der Teilung Polens ewige Schmach auf sich geladen“, sprach Mierosławski zu seinen deutschen und polnischen Anhängern. „Und wie es jüngst noch für euch und uns als Verbrechen galt, nach des Vaterlandes Freiheit zu ringen, und wie sie uns darob, draußen im Kerker, in eiserne Bande schlugen, so warst du es, hochherziges Volk, dessen Blut in diesen Tagen der Befreiung auch für unsere Freiheit floß. Wir danken euch!“
Ludwik Mierosławski
Pathos, ja. Aber dann fallen jene Worte, die wie ein Versprechen klingen für eine bessere Zukunft. „Eure Freiheit ist unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist die Eure! Herr sein oder Sklave sein, eins wie das andere läuft gegen die heiligen Gesetze der Natur. Nur freie Menschen, nur freie Völker können sich achten.“ Schließlich bat Mierosławski: „O nehmet uns auf, ihr Völker des Westens in euren Bund, dessen Kreis sich von Stunde zu Stunde mit Riesenschritten erweitert!“
Kurz darauf zieht die Menge von Moabit wieder vor das Berliner Schloss. Auf dem Balkon steht der Berliner König. Er muss sich in diesen Tagen nicht nur vor den Märzgefallenen verneigen, sondern auch vor einem zum Tode verurteilten polnischen Freiheitskämpfer.
Enttäuschung über einen Helden
2007 fährt Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg mit seinem Dienstwagen an die deutsch-polnische Grenze. An seinem Wagen ist, obwohl streng verboten für Beamte, ein politischer Aufkleber angebracht. Er zeigt das Konterfei Mierosławskis, gerahmt von der deutschen und polnischen Nationalfahne. Auch die berühmte Losung ist, in beiden Sprachen, darauf zu lesen: „Für unsere und eure Freiheit“ – „Za naszą i waszą wolność“.
Ein Jahr zuvor hatten Rautenberg und sein polnischer Kollege Mieczysław Tabor, Staatsanwalt bei der Landesstaatsanwaltschaft in Poznań, einen gemeinsamen Appell verfasst: „Ludwik Mierosławski ist für uns zu einer Art Symbolfigur für gute deutsch-polnische Zusammenarbeit geworden“, schrieben beide. „Wir bemühen uns, dass in Poznań, wo er 1846 in der Zitadelle zunächst inhaftiert war, eine Straße nach ihm benannt wird.“ Nach einer Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen in Berlin wohnte Rautenberg in Słubice der Einweihung einer Gedenktafel bei.
Fast scheint es, als hatten der 2018 verstorbene Rautenberg und sein damaliger polnischer Kollege ausgeblendet, was nicht ins Bild von der Symbolfigur passte, die für „eure und unsere Freiheit“ kämpfte. Denn unmittelbar nach seiner Befreiung aus Moabit geht Ludwik Mierosławski wieder nach Posen. Nach der Nachricht von der Freilassung der polnischen Gefangenen ist es dort erneut zu einem Aufstand gekommen – und Mierosławski ist ihr Anführer.
Die polnische Nationalarmee in Posen ist inzwischen auf 10.000 Mann angewachsen. Mierosławski fühlt sich stark genug, es nach 1846 ein zweites Mal mit der preußischen Teilungsmacht aufzunehmen. Aber auch Preußen ist vorbereitet. In Frankfurt (Oder), damals preußische Garnisonsstadt, wird die Mobilmachung angeordnet. Mitte April 1848 stehen den Truppen Mierosławskis rund 40.000 preußische Soldaten gegenüber. Zwei Tage später ist der Aufstand niedergeschlagen. Ludwik Mierosławski wird festgenommen und nach einer Intervention der Franzosen nach Frankreich abgeschoben.
In diesen Tagen sickert zum ersten Mal der Vorwurf von den „undankbaren Polen“ ins Bewusstsein der liberalen Deutschen. Anstatt Seite an Seite mit den Deutschen für ein freies Europa zu kämpfen, pfeift der von ihnen verehrte Freiheitskämpfer plötzlich auf den Völkerfrühling. Nationale Unabhängigkeit ist ihm scheinbar wichtiger als demokratische und soziale Rechte.
Entsprechend brüsk reagiert die Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main auf den Aufstand. „Die polenfreundliche Stimmung unter den deutschen Demokraten“, schreibt der Slawist und Buchautor Thomas Urban, „war umgeschlagen.“ Polen galt in Deutschland wieder „als Land des Landadels, der egoistisch um seine Privilegien kämpfte und daher an einer grundsätzlichen Veränderung der Verhältnisse nicht interessiert war“.
Streit um Europa
Seitdem die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit PiS 2005 das erste Mal und 2016 wieder die Regierungsgeschäfte in Polen übernommen hat, taucht das Bild von den „undankbaren Polen“ in Deutschland erneut auf. Europa hat Polen nach dem neuen Völkerfrühling 1989 den roten Teppich ausgerollt, die „Völker Europas“ haben, wie es Mierosławski in seiner Rede am 20. März 1848 gefordert hatte, die Polen in ihren Bund aufgenommen, lautet der Vorwurf. Und nun missachtet die Regierung in Warschau die europäischen Werte, für die die Märzrevolution in Deutschland bis heute steht. Von wegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Doch war Ludwik Mierosławski wirklich ein Undankbarer? Oder symbolisiert der lange gefeierte Revolutionär mit seiner Rückkehr nach Posen lediglich den Zwiespalt, in dem er steckte. Freiheit, das waren für ihn nicht nur demokratische Rechte, sondern es bedeutete auch nationale Unabhängigkeit.
„Mit seiner Rückkehr nach Posen hat Mierosławski die europäische Bühne verlassen und den nationalen polnischen Boden betreten“, sagt Marcin Wiatr. Der in Gleiwitz geborene Wiatr ist Historiker und Germanist, vor allem aber ist er Mitarbeiter in der deutsch-polnischen Schulbuchkommission. Die hat gerade den dritten Band des deutsch-polnischen Schulbuchs „Europa – Unsere Geschichte“ herausgegeben. „Dort haben wir versucht, Mierosławski in einen europäischen Zusammenhang einzuordnen. Als einen Revolutionär unter anderen, darunter auch Michail Bakunin, Giuseppe Garibaldi und Friedrich Hecker.“ Gerade diese europäische Perspektive sei für die Schülerinnen und Schüler enorm wichtig, betont Wiatr.
Aber auch Wiatr weiß, dass es neben der europäischen Ebene auch noch die der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte gibt: „Polen stellt mit dem Aufstand in Posen 1848 die nationale Frage, und Mieroslawski ist dabei“, sagt er. „Das ist sicher einer der Gründe dafür, dass die Polenbegeisterung, auch in der Paulskirche, abflaut.“
Aber auch in Polen wandelt sich die Stimmung. Gegen den erbitterten Widerstand der polnischen Bevölkerung wird ein großer Teil des Großherzogtums Posen am 22. April 1848 in den Deutschen Bund aufgenommen. In der Nationalversammlung in der Paulskirche gibt es dafür eine große Mehrheit, auch unter den demokratischen und liberalen Kräften. Auf den von deutscher Seite als Verrat empfundenen Seitenwechsel von Ludwik Mierosławski erfolgt der von polnischer Seite als Verrat empfundene Akt in der Frankfurter Paulskirche. Nicht mehr nur preußisch war das mehrheitlich polnische Posen, sondern nun auch deutsch. Der Völkerfrühling ist endgültig zu Ende.
„Eine komplizierte Gemengelage zwischen Freiheitsbewegungen und nationaler Frage“ nennt das Marcin Wiatr. Dass Ludwik Mierosławski kurz darauf in Baden wieder an der Seite der Aufständischen steht, bedeute nicht, dass er nun wieder die europäische Bühne betreten habe. „Es geht in Baden und auch andernorts eher darum, im deutschen Bund ein Gegengewicht zu Preußen zu schaffen.“
Man könne da sehr gut einen Bogen in die Gegenwart schlagen, findet Wiatr. „Um die Diskussionen in der EU um nationale Souveränität versus weitere europäische Integration zu verstehen“, sagt er, „ist manchmal ein Blick in die Geschichte hilfreich. Da ist es einfacher, die verschiedenen Interessen und Perspektiven zu verstehen und dass es da nicht immer die eine Antwort gibt.“
Revolution versus Reform
Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain gibt es seit 2018 eine neue Außenausstellung. Provisorisch ist sie zunächst in einem Seecontainer untergebracht. „Wir versuchen dort, die Geschichte der Berliner Märzrevolution von 1848 in ihrem europäischen und nationalen Kontext zu erzählen“, sagt Oliver Gaida. Der Historiker und Vorsitzende des Paul-Singer-Vereins, der den Friedhof betreibt, nennt die verschiedenen Stationen der Ausstellung, unter ihnen die europäischen Schauplätze der Revolution, die Berliner Barrikadenkämpfe oder den Deutschen Bund.
Der Berliner Märzrevolution sind vier Unterthemen gewidmet. Es sind „Der Umritt des Königs“, der am 21. März 1848 in eine schwarz-rot-goldene Fahne gehüllt durch die Stadt reitet und bei einem Zwischenstopp an der Berliner Universität behauptet, er werde die deutsche Einheit als absolutistischer Fürst verwirklichen.
Ein weiteres Thema ist der Trauerzug mit den Opfern, der am 22. März am Gendarmenmarkt beginnt und zum Volkspark Friedrichshain führt. Dem schließt sich nach der Beerdigung die „Aufbahrung der Märzgefallenen“ an. Aber ganz am Anfang steht das Thema „Die Befreiung der polnischen Freiheitskämpfer“.
Auf dieser Tafel ist auch der eingangs beschriebene Holzstich aus der Illustrierten Chronik von 1848 abgebildet, der den Titel trägt: „Empfang der Polen vor dem pennsylvanischen Gefängnis zu Moabit“. Das Adjektiv „pennsylvanisch“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die panoptische Architektur des neuen Gefängnisses, von dem überall zu jeder Zeit die Gefangenen überwacht werden konnten. Die Tafel im Container in Friedrichshain selbst endet mit dem Satz: „Das Ersuchen einer polnischen Delegation aus Posen nach nationaler Souveränität wird wenige Tage später von Friedrich Wilhelm IV. abgelehnt.“
Angedeutet ist er also, der Konflikt, für den Ludwik Mierosławski ebenso steht wie für den Triumphzug am Tag seiner Freilassung. „Über seine Person können viele Fragen aufgeworfen werden“, weiß Oliver Gaida.
1795 Dritte und letzte Teilung Polens. Das Land ist zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt und verschwindet von der europäischen Landkarte.
1830 Im November beginnt im russischen Teilungsgebiet der Novemberaufstand. Der 16-jährige Ludwik Mierosławski nimmt als Unteroffizier an ihm teil.
1831 Nach der Niederschlagung des Aufstands malt Dietrich Monten „Finis Poloniae“. Es ist der Beginn der Polenbegeisterung in Deutschland.
1846 Im preußischen Posen mit seiner polnischen Bevölkerungsmehrheit wird ein Aufstand vorbereitet. Mierosławski wird verraten und verhaftet.
1847 Am 2. August beginnt in Moabit der sogenannte Polenprozess. Die Anklage lautet auf Hochverrat. Im Dezember wird Mierosławski zum Tode verurteilt. Das Urteil wird aber zunächst nicht vollstreckt.
1848 Am 13. März beginnt in Wien die Märzrevolution, fünf Tage später erreicht sie Berlin. In den Barrikadenkämpfen rund um das Schloss sterben 270 Menschen. Am 19. März schreiben deutsche und polnische Studenten und Beamte eine Petition an Preußens König Friedrich Wilhelm IV. Sie fordern die Freilassung der polnischen Gefangenen in Moabit. Zuvor hat der König im Schlosshof die Mütze vor den aufgebahrten Märzgefallenen gezogen. Einen Tag später unterzeichnet der König die Freilassung. 100.000 Berlinerinnen und Berliner marschieren zum Schloss, wo sich Friedrich Wilhelm verneigen muss. Am 21. März reitet Preußens König durch die Stadt und verspricht die deutsche Einheit. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung werden die Märzgefallenen zum Volkspark Friedrichshain gebracht. Im April beginnt in Posen ein neuer Aufstand gegen Preußen unter Führung von Ludwik Mierosławski, der im Mai niedergeschlagen wird. 10.000 Polen standen 40.000 preußischen Soldaten gegenüber. Mierosławski wird freigelassen und nach einer Intervention aus Paris nach Frankreich abgeschoben. Am 22. April beschließt der Deutsche Bund die Aufnahme eines Teils des Großherzogtums Posen.
1849 Im Badischen Aufstand nimmt Mierosławski als Oberbefehlshaber der badischen Revolutionsarmee teil. Zuvor hatte er bereits in Sizilien gekämpft. Sein Ziel ist die Schwächung der Rolle Preußens im Deutschen Bund. Nach dem Scheitern der Revolution wandern viele Deutsche in die USA aus. Dort werden sie „Forty-Eighters“ genannt.
1860 Mierosławski wird Oberbefehlshaber der Internationalen Legion in Italien.
1863 Der letzte Aufstand, an dem Mierosławski teilnimmt, ist der Januaraufstand im russischen Teilungsgebiet. Nach seinem Scheitern geht er nach Paris zurück.
1878 Mierosławski stirbt in Paris.
1918 Nach dem Ersten Weltkrieg kehrt Polen nach 123 Jahren der Teilung auf die europäische Landkarte zurück.
Auch für Dorota Danielewicz ist Ludwik Mierosławski keine historische Person, die bereits auserzählt wäre. „In Polen gibt es ein großes Faible für revolutionäre Helden“, sagt sie. „Fast ist es so, als wären Revolutionen Teil der polnischen DNA.“ Aber um der polnischen Frauenbewegung, die derzeit das Bild der Proteste in Polen gegen die Nationalkonservativen prägt, zum Erfolg zu verhelfen, brauche es neben dem revolutionären Geist auch Ausdauer und Kontinuität. So wie es in Posen Ende des 19. Jahrhunderts der Fall war.
Nach dem gescheiterten Januaraufstand 1863 nämlich waren es viele Polinnen und Polen im preußischen Posen satt, immer nur ins offene Messer zu rennen. Stattdessen wurden Vereine gegründet, polnische Banken und Landwirtschaftsvereine, im Zentrum der Stadt wurde mit dem Hotel Bazar eine Art Zentrum polnischer Lobbyarbeit errichtet. „Die polnische Bevölkerung in Preußen arrangierte sich“, sagt Dorota Danielewicz. „Sie wollte nun Reformen statt einer Revolution.“
Ludwik Mierosławski dagegen kämpft weiter. Im Januaraufstand 1863 ist er einer der Anführer im Kampf gegen die Zarenherrschaft. Nach seinem Scheitern flieht er nach Paris. Als er 1878 stirbt, ist die Zeit der Revolutionäre vorbei. Seit der Reichsgründung 1871 sind die Polen in Posen deutsche Staatsbürger, im Reichstag bilden sie die polnische Fraktion.
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