Frauenrechte in der Türkei: An der Seite des Mannes
Die Politik und Rhetorik der AKP tötet Frauen oder lässt sie verarmen. Dennoch gibt es viele AKP-Unterstützerinnen. Wie kann das sein?
Als Präsident Erdoğan vor einigen Wochen im türkischen Trabzon den Opfern gedachte, die Mitte Juli während des Widerstands gegen den Putschversuch ums Leben gekommen sind, fiel ein denkwürdiger Satz: „Man kann wie ein Mann sterben, oder wie eine Madame. Lasst uns wie Männer sterben!“
Irritierend an der Aussage ist weder der Märtyrermythos noch der frauenverachtende Ton. Beides gehört nämlich unmittelbar zur Machtrhetorik der Regierungspartei AKP. So landete im Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter Bülent Arınç, der ehemalige Stellvertretende Premierminister, schon 2015 in den Medien, als er im Parlament der HDP-Abgeordneten Nursel Aydoğan entgegnete, dass sie als Frau zu schweigen habe.
Irritierend ist vielmehr das Statement, das Familienministerin Fatma Sayan Kaya wenige Tage nach Erdoğans Rede während einer Parlamentsversammlung abgibt, um seinen Satz zu bekräftigen: „Ja, in der Putschnacht haben es unzählige türkische Frauen bewiesen. Wir können auch sterben wie Männer.“
Fatma Sayan Kaya ist übrigens die einzige Frau im Regierungskabinett. Das Ministerium für Familie und soziale Politik, das sie leitet, hieß bis 2011 noch Frauenministerium. Es ist nur eines von vielen Zeichen, die darauf hindeuten, dass die Frau in der Türkei politisch nur noch innerhalb der Familie existiert. Also an der Seite ihres Mannes.
In Abhängigkeit getrieben
Noch in diesem Jahr wurde im türkischen Parlament ein Ausschuss gegründet, der die Ursachen von Scheidungen herausarbeiten und „Strategien“ gegen sie entwickeln soll. Dazu gehört etwa das Streichen des Unterhalts, der der Frau nach einer Scheidung zusteht.
Zudem ordnen etliche Stadtverwaltungen die Schließung von Frauenhäusern an, weil diese angeblich „die Institution Familie zerstören“. Die AKP-Regierung mischt sich nicht nur in das Sexualleben der BürgerInnen ein, indem sie ihnen vorschreibt, wie viele Kinder sie haben sollen (mindestens drei!).
Sie betreibt eine Politik, die Frauen verarmt und tötet. Seit die AKP 2002 an die Macht kam, ist die Zahl ermordeter Frauen um 1.400 Prozent gestiegen. Nur 27 Prozent aller Frauen haben heute einen bezahlten Job und die Analphabetenrate unter Frauen liegt bei 10 Prozent.
Frauen werden in die Abhängigkeit getrieben, indem zinsfreie Kredite für die StudentInnen angeboten werden, die sich entscheiden, während des Studiums zu heiraten. Seit vergangenem Donnerstag wird zudem die Straffreiheit für Vergewaltiger und Kinderschänder im Parlament diskutiert: Der Gesetzesentwurf von sechs AKP-Abgeordneten sieht vor, dass Vergewaltiger und Kinderschänder freigesprochen werden, wenn sie ihre Opfer heiraten. Frauenorganisationen, darunter auch die proislamische Frauenvereinigung Kadem, in deren Vorstand Erdoğans Tochter sitzt, äußern große Sorge über die Konsequenzen des Entwurfs.
Seit Mai 2015 ist die staatliche Eheschließung nicht mehr verpflichtend für die religiöse Eheschließung, was wiederum den Weg für Kinderehen beziehungsweise zu legalem Kindermissbrauch ebnet. Zudem wurden mehrere NGOs geschlossen, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen. Abtreibungen werden selten praktiziert, obwohl sie gesetzlich bis zur zehnten Woche der Schwangerschaft rechtmäßig sind – weil sie von vielen Krankenhäusern nicht angeboten werden und Ärzte vielen Patientinnen dringend davon abraten.
Die allermeisten Frauen können also nicht abtreiben, nicht fliehen und sich nicht scheiden lassen. Wenn sie unglücklich in ihrer Ehe sind oder Gewalt erfahren, sind sie durch die Politik der AKP gezwungen, so weiter zu leben.
Gleichberechtigung durch die AKP?
Umso verwunderlicher ist, dass es Frauen gibt, die die AKP unterstützten. Und nicht nur das. Es gibt Frauen, die sich erst mit der AKP als gleichberechtigt empfinden. Um das zu verstehen, muss man in die fast 100-jährige Geschichte der türkischen Republik blicken.
Bei ihrer Gründung 1923 versprach die Republik Frauen mehr Macht durch Gleichberechtigung. Mehr noch wurde die Modernisierung des Landes geradezu von der „Verwestlichung“ der traditionellen Frau abhängig gemacht.
Der erste Schritt zu diesem Ideal, das die Türkei Europa näher bringen sollte, war das Ersetzen der islamisch geprägten Kultur mit dem Laizismus. So wurde 1925 die Kleidungsreform erlassen, die das Tragen traditioneller Kleidung aus dem osmanischen Reich – zum Beispiel Fez und Tschador – gesetzlich untersagte. Der säkulare Nationalstaat der Türkei sollte als die einzige Festung der Demokratie in der islamischen Welt eine wertvolle Ausnahme darstellen.
Und ein Teil der Bevölkerung fühlte sich durchaus wohl mit den Reformen. Jedoch handelte es sich dabei um eine Minderheit, eine von der Republik geschaffene, westlich geprägte Elite. Die Mehrheit fühlte sich dagegen unter Druck gesetzt. Jene Frauen, die nicht dem neuen Ideal der modernen türkischen Frau entsprachen, galten kaum als vollwertige Bürgerinnen.
Die traditionellen Teile der Gesellschaft wurden zur Unterschicht, verloren ihren Platz in der Öffentlichkeit zunehmend und bewohnten kleinere und ärmere Ortschaften mit schlechteren Chancen auf Erwerb, während die Kemalisten die Großstädte und den größeren Anteil des Vermögens dominierten.
Die AKP wirkt gegen die Verwestlichung des Landes
Die Benachteiligung der traditionellen Teile der Gesellschaft wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spürbarer. Nach dem Putsch im Jahr 1980 wurde von der Militärregierung ein Gesetz in Kraft gesetzt, das das Kopftuchtragen in staatlichen Einrichtungen endgültig untersagte.
Die Begründung: Erhaltung der laizistischen Werte. Frauen mit Kopftüchern, die studierten oder als Beamte arbeiteten, hatten zwei Optionen: Sich entschleiern, oder zu Hause bleiben. Viele gaben ihre Jobs auf und schmissen ihr Studium, wenige entfernten ihre Kopftücher oder trugen Perücken.
Einige Familien lehnten es ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Wer es sich leisten konnte, wechselte an Hochschulen im Ausland. Doch die Verletzung des Rechts auf Bildung und Arbeit brachte auch viele Menschen zusammen. Der Islam politisierte sich und das Kopftuch wurde zum Symbol einer Bewegung.
Erst 2007 wurde das Kopftuchverbot aufgehoben – von der AKP. Frauen mit Kopftuch durften wieder studieren und unterrichten. Mit Staatsoberhaupt Erdoğan fanden die systematisch Diskriminierten endlich einen Anführer, der für Gerechtigkeit und die Macht der einfachen Leute stand.
In der Regierungszeit der AKP unter Erdoğan veränderten sich die gesellschaftlichen Dynamiken enorm. Die AKP wirkte dem Modernisierungszwang entgegen, gab den BürgerInnen das von den „Weißtürken“ verweigerte Recht zurück, ihren Traditionen entsprechend zu leben – und machte ihre Unterstützer teilweise reich.
Für die einzelnen Frauen, denen der Zugang zu Bildung jahrzehntelang verwehrt worden war, stellte dies eine große Veränderung dar. In den folgenden Jahren bewies die AKP jedoch, dass sie kein ernsthaftes Interesse an Bildung hatte, besonders nicht an der von Frauen. Durch das neue Schulsystem sinkt die Zahl der Schülerinnen.
Die Schulpflicht wurde zwar auf 12 Jahre erhöht, jedoch wurde das Verbot einer Eheschließung für SchülerInnen aufgehoben. Die SchülerInnen, die durch fehlende Kapazität keinen Schulplatz erhalten, müssen damit rechnen, verheiratet zu werden, insbesondere Mädchen.
Blickt man auf die Zahlen, hat sich auch an den Universitäten nicht sehr viel getan. Zwar stieg die Zahl der Studentinnen zwischen 2005 und 2009 von 980.000 auf 1,2 Millionen – doch bedenkt man demografischen Wandel und wirtschaftlichen Aufschwung ist der Zuwachs verschwindend gering.
Im Bus verprügelt
Seit dem gescheiterten Putschversuch und den darauf folgenden wochenlangen „Demokratiewachen“ hat sich auch die Atmosphäre im öffentlichen Raum stark verändert. Laut einer Recherche der türkischen Onlinezeitung T24 überlegen sich Frauen seit Mitte Juli zweimal, was sie sich anziehen, bevor sie das Haus verlassen.
Wie berechtigt diese Überlegungen sind, zeigt der Fall von Aysegül Terzi. Am 12. September wurde die 23-jährige Krankenschwester im Bus von einem Mann zusammengeschlagen. Der Grund: Er fand, sie habe zu kurze Shorts getragen. Nach der enormen öffentlichen Reaktion auf den Fall wurde der Täter zwar festgenommen, jedoch nach dem ersten Verhandlungstag wieder freigelassen.
Wenn also die AKP-Regierung dafür gefeiert wird, dass sie Frauen das Recht zurückgab, ihr Kopftuch aufzubehalten, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass sie noch etwas anderes erreicht hat: Sie hat ein Land geschaffen, in dem Gewalt gegen Frauen mit oder ohne Kopftuch zur Normalität geworden ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee