Frauenfußball und sexuelle Gewalt: Schluss mit dem Schweigen
Vor dem EM-Auftakt der Niederländerinnen berichtet Trainerin Vera Pauw von sexuellem Missbrauch durch Funktionäre zu ihrer Zeit als Spielerin.
„35 Jahre lang habe ich ein Geheimnis vor der Welt verborgen, meiner Familie, meinen Mitspielerinnen, meinen Spielerinnen, meinen Kolleginnen und mir selbst verborgen“, beginnt der Bericht auf ihrem Twitter-Account. Pauw, aktuell Coach des irischen Teams, das in der Qualifikation zur EM scheiterte, spricht von der „schwierigsten Sache meines Lebens“. Als Spielerin und Nationaltrainerin sei sie „systematischem sexuellen Missbrauch, Machtmissbrauch, Mobbing, Einschüchterung und Isolation“ ausgesetzt gewesen.
Schockierend sind nicht nur die Worte, mit denen Vera Pauw im Folgenden über Erinnerungen berichtet, die dreieinhalb Jahrzehnte lang ihr Leben bestimmt und ihr täglich Schmerz und Qualen bereitet hätten. Hinzu kommt, dass sie sich innerhalb der niederländischen Fußballstrukturen jahrelang vergeblich um Aufmerksamkeit für ihre Geschichte bemüht habe. Manche Personen hätten lieber geschwiegen als sie bei ihrem Weg an die Öffentlichkeit zu unterstützen. „Ich kann das Schweigen nicht länger teilen.“
Einen Tag später meldete sich Piet Buter, als Bondscoach in den späten 1980ern für die Leeuwinnen verantwortlich und später unter anderem technischer Direktor des FC Utrecht. Er habe 1985 eine kurze Affäre mit Vera Pauw gehabt, den Vorwurf der Vergewaltigung weist er jedoch zurück. „Das kann einfach nicht wahr sein. So bin ich nicht“, so Buter telefonisch zum Algemeen Dagblad. „Zu 100.000 Prozent sicher“ habe nichts ohne gegenseitiges Einvernehmen stattgefunden. Zudem könnten alte Erinnerungen „ein eigenes Leben bekommen“.
Übergriffe auch bei Ajax Amsterdam
In den Niederlanden stellt der Fall nun zum EM-Start die durchwachsene Form der Europameisterinnen in den Schatten. Seit Monaten tauchen in frappierender Regelmäßigkeit Fälle von sexuellen Übergriffen aus den verschiedensten Bereichen auf, wobei sich neben dem Showgeschäft auch der Fußball hervortut.
Große Aufmerksamkeit gab es um Marc Overmars, der im Winter als Ajax-Direktor gehen musste, weil er weibliche Angestellte fortwährend mit sexuellen Nachrichten belästigt hatte, unter anderem mit „dick pics“. Das NRC Handelsblad folgerte, bei Ajax herrsche „eine Kultur, in der sexuelles Fehlverhalten gedeihen kann“ und zitiert eine Betroffene: „Wenn du als Frau keine dicke Haut hast bei Ajax, wird es schwierig.“
Der mangelhafte Umgang mit solchen Fällen beim Renommierclub des Landes war bereits im Winter massiv kritisiert worden. Wie erbärmlich er tatsächlich war, macht eine Aussage der ehemaligen Spielerin Daphne Koster deutlich. Laut der heutigen Managerin der Ajax-Frauen war Overmars’ Verhalten unter Spielerinnen schon während ihrer aktiven Zeit zwischen 2012 und 2017 bekannt. Weil es sich jedoch um den Technischen Direktor des Klubs gehandelt habe, hätten sie geschwiegen. „Es gibt Angst, das zu melden. Das sorgt dafür, dass so etwas in einer Organisation gedeihen kann.“
Vera Pauw, die in den Niederlanden nicht nur als Pionierin des Frauenfußballs gilt, sondern auch als Wegbereiterin des Aufschwungs des Nationalteams, hat inzwischen Anzeige erstattet. Die niederländische Sportsoziologin Froukje Smits hält den Fall derweil für die „Spitze des Eisbergs“ und kritisiert das maskuline Verhalten, das „sehr tief in der Fußballkultur“ stecke. In einem Interview mit der niederländischen Fachzeitschrift Voetbal International hatte sich Pauw bereits vor zwei Jahren über sexuelle Einschüchterung und Männerkultur in ihrem Sport beklagt.
Der Fußballverband KNVB gab sich in einem Statement „sehr erschrocken“. Nachdem Vera Pauw den Verband im letzten Jahr über die Situation informiert hatte, habe man eine unabhängige Untersuchung veranlasst, für die 22 Personen befragt wurden. Daraus gehe hervor, der Verband habe „einige Dinge anders angehen müssen“. Auch sei man unzureichend alarmiert gewesen, als von Pauw 2011 „erste Signale“ über sexuell grenzüberschreitendes Verhalten ausgingen. Es sei „inakzeptabel“, dass sie nicht die sichere Arbeitsumgebung erfahren habe, die ihr zustünde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance