Frankreich und der große Streik: En Marche aus dem Tritt
Kandidatenstreit, Befehlston von oben und stagnierende Mitgliederzahlen: Präsident Macrons Regierungspartei wirkt zerrupft.
E r ist in Bewegung, keine Frage. In diesem Moment ist das vor sich hin quietschende, leicht ruckelige Abteil der Pariser Metro-Linie 9 seine Bühne, er bespielt sie mit Verve. Einige Fahrgäste reißt er aus ihrem Feierabenddämmer, sie springen auf, grüßen Cédric Villani, den schmalen, in edles dunkelblaues Tuch gewandeten und leichtfüßigen 46-Jährigen. Einen breiten Binder trägt der am Hals und eine Spinnenbrosche am Revers.
Ab und an geht auch ein Daumen nach oben. Der dunkelhaarige, vollbärtige Mann, den Dandyhaftes umweht, ist schließlich Bürgermeisterkandidat hier in der Hauptstadt. Ein Knochenjob, wenn er es wird, ein Job, der im politisch straff zentralistisch organisierten Frankreich nicht irgendeiner ist, und oft eng verwoben mit der nationalen Politik. Jacques Chirac etwa, Gaullist und späterer Staatspräsident, machte ihn bis 1995. „Monsieur Villani, ich mag Ihre Bewerbung, Sie sind nicht so wie andere Politiker. Sie haben was Echtes, sind ein Original“, ruft ein junger Mann angetan mit einem neonfarbenen Rucksack aus Jute. Dann steigt er winkend aus.
Cédric Villani freut’s sichtlich. Mit seiner Liste „Vivons Paris“ will er, bis jetzt inhaltlich noch wenig konkret, vor allem mehr Ökologie und Miteinander im Großraum Paris durchsetzen, in dem über 12,5 Millionen Menschen zu Hause sind. Villani ist einer der bekanntesten lebenden Mathematiker – 2010 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet, dem Nobelpreis der Rechenkunst. Wann das Spielen mit Inhalten bei ihm ein Durchspielen, ein Durchrechnen wird? Seine relativ neue Spielwiese ist jedenfalls die Innenpolitik – seit Mitte 2017 ist der gebürtige Südwestfranzose Abgeordneter in der Nationalversammlung.
Villani, der noch vor fünf Jahren die amtierende sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo in Paris unterstützte, ist aber auch Mitglied der im April 2016 vom heutigen Staatspräsidenten gegründeten Bewegung La République en Marche. Sein perfekt zur Inszenierung von Emmanuel Macron passendes Credo damals wie heute: „Ich bin politisch weder links noch rechts noch in der Mitte.“
Fast 420.000 Menschen gehören heute En Marche an, die Einschreibung ist gratis, seit Ende 2017 stagniert der Zuwachs. Mitglieder können sich lokal in sogenannte comités einbringen, die Bürger*innenpartizipation verheißen – mittlerweile aber auch intern als wohlfeile Debattierclubs hinterfragt werden. Die wichtigen politischen und personellen Entscheidungen werden diskussions- und ausnahmslos im Elyséepalast gefällt, dem Amtssitz von Macron; auch Regierungschef Philippe spielt regelmäßig nur die zweite Geige. En Marche tönt und sieht immer mehr aus wie eine Partei, ihr Funktionieren ist nicht weit entfernt von einst de Gaulles oder Chiracs Präsidentenwahlvereinigungen.
Cédric Villani, will Pariser Rathaus-Chef werden
Die biederten sich an – im Namen von Volksbewegungen oder rassemblements als Alternative zu den damals schon ungeliebten Parteien. Einen vorerst letzten Beweis für diese „Normalisierung“ liefert eine sogenannte nationale Kommission von En Marche. Sie nominiert die Kommunalwahlbewerber*innen von Paris aus und setzt sich zwanglos über lokale Wünsche und Empfindlichkeiten hinweg.
Was dazuführt, dass es gehörig rumpelt im Club. Die Pariser Gegenkandidatur von Cédric Villani ist nur ein Beispiel in einem teilweise großspurigen politischen Unterfangen, das nun ächzend auch in der mäandernden Kommunalpolitik angekommen ist. Denn Villani ist der eigenen Formation abtrünig geworden, und das ohne aus dem Club ausgeschlossen zu werden. Er hat sich im September einfach dreist selbst als Gegenkandidat zum offiziell bereits im März nominierten Benjamin Griveaux ausgerufen.
„Aber Villani hat keine Ressourcen, keinen Rückhalt in unserer Bewegung“, sagt Martin Bohmert, 31. Bis vor Kurzem leitete der Ingenieur die Jugendorganisation von En Marche. Der bärtige, gemütlich wirkende Absolvent der renommierten Sciences Po, der, „hab ich mal genug von Paris“, selbst mit kommunalem Engagement in seiner Provinzheimat Niort liebäugelt, versucht emsig beim Heißgetränk im Bistro das derzeitige Hickhack zu relativieren. „Es gibt halt ein paar Frustrierte in unserer Bewegung, das ist ganz normal – so jung, wie wir noch sind“. Sorge bereitet Bohmert aber der Umgang mit dem Hickhack, er plädiert für mehr „innere Distanz zum Geschehen, wir müssen raus aus der Verteidigung“. Soziale Fragen sollten zentral werden für En Marche, „sonst fallen uns die Gelbwesten erneut brutal auf die Füße“. Sein Kommentar zum Generalstreik am Donnerstag? Bohmert nimmt noch einen Schluck Warmes, runzelt die Stirn. Dann schaut er stumm gen Ausgang.
Das für eine Partei bei einer Wahl mehrere Bewerber*innenlisten existieren, kommt immer wieder vor in Frankreich. Der konkrete Fall Villani gegen Griveaux in Paris illustriert gut die schon bald nach dem Wahltriumph 2017 aufkeimenden Spannungen bei En Marche. Deren monstranzartig demonstrierte programmatische Offenheit hindert die Bewegung nun bei nicht wenigen anstehenden Rathauswahlen daran, eine gemeinsame Kandidat*in aufzustellen. Was wiederum auf krude Weise zur hauseigenen Taktik passt, die Kommunalwahlen durch breit aufgestellte Listen zu entpolitisieren. „Jegliche Kriterien für eine Links-rechts-Polarisierung werden so verwischt“, wie es Alain Auffray beschreibt, Journalist bei der linksliberalen Tageszeitung Libération.
Kampfkandidaturen, nicht nur in Paris
Doch parteiintern führt genau das zu Unmut und Kampfkandidaturen – nicht nur in Paris. In Lyon etwa, der mit fast 1,4 Millionen Menschen zweitgrößten Metropolregion Frankreichs, existiert eine „liste dissidente“ gegen den amtierenden, mittlerweile nach rechts driftenden Rathauschef Gérard Collomb, der früher mal Sozialist war. Sie beruft sich ebenfalls auf En Marche. Man setzt auf den jetzigen Chef der Metropolregion David Kimelfeld und den einstigen Interim-Bürgermeister Georges Képénékian. Die beiden Abtrünnigen hoffen im finalen Wahlkampf auf Stimmen von Linkswählern und Grünen. Offizieller Kandidat in Lyon, und von Macron abgesegnet, bleibt aber dessen Ex-Innenminister Collomb.
Das politische Tauziehen an Rhône und Saône ist so ein weiteres Puzzlestück dafür, dass, wo immer interne Dissonanzen hörbar und Risse aufgrund von Rivalitäten sichtbar werden, En Marche doch wieder vom Links-rechts-Schema in der eigenen Formation eingeholt wird. Genau dieses Szenario aber hatte man für überholt erklärt – als die französische Linke und die Konservativen per fulminanten Wahlerfolg erst einmal geschreddert wurden. Mittlerweile gibt es konservativ geprägte Figuren aus dem Gefolge von Macron wie die Parlamentarierin Aurore Bergé, 33, die jüngst erwogen hat, in der Nationalversammlung gleich zwei En-Marche-Fraktionen zu bilden.
Fakt ist, dass sich bei den anderen Parteien weder die untereinander zerstrittenen Sozialisten noch die nicht minder desorientierten Konservativen von der Niederlage 2017 erholt haben. Nur die extreme Rechte unter Marine Le Pen hat bisher von Macrons Problemen bei der Umsetzung seiner Ziele profitieren können. Der Rassemblement National spielt sich dementsprechend als „wahre und bürgernahe“ Oppositionskraft auf.
In den ersten zweieinhalb Jahren der Präsidentschaft von Emmanuel Macron fehlte es nicht an Konflikten und Kraftproben, aber auch nicht an mehr oder weniger spektakulären Kapitulationen und Konzessionen an die sogenannte Realpolitik. Prominente Regierungsmitglieder wie Umweltschützer und Staatsminister Hulot oder Innenminister Collomb distanzierten sich mit ihren Rücktritten politisch – oder schieden wie Hulots Nachfolger de Rugy wegen einer peinlichen Spesenaffäre aus. Macron hat all dies mit seiner an Überheblichkeit grenzenden Selbstsicherheit weggesteckt. Auch die Basis von En Marche und ebenso der Wähler*innenkern von 2017 hielt weiter zu ihm. Immer spürbarer wird aber bei der nach rechts abdriftenden Asyldebatte, bei der Einwanderungsreform, den Klimazielen und letztlich auch bei der Debatte um die Laizität, dass es mit dem internen Pluralismus nach links wie nach rechts längst nicht so weit her ist, wie Macron stets gelobt hat.
Durchhalteparolen und Diktate von oben
Bisher 12 Abgeordnete haben inzwischen wegen schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten die Fraktion verlassen. Angesichts dieser zentrifugalen Tendenzen fordert die Spitze Disziplin: „Sich bei Regierungsvorlagen zu enthalten ist eine Sünde – dagegen zu stimmen eine Todsünde“, so soll die harsche Ansage des Nationalversammlungs-Vorsitzenden, Gilles Le Gendre, an seine Kolleg*innen lauten. Wie die im März anstehenden Kommunalwahlen ausgehen, ist aus diversen Gründen wichtig: Die lokalen und regionalen Volksvertreter*innen wählen etwa gemeinsam mit den nationalen Abgeordneten den französischen Senat. Gegenwärtig haben dort die konservativen Republikaner eine Mehrheit von 146 Sitzen, En Marche hat nur 23 Senator*innen. Macron hofft, dass das Gremium in Richtung einer für seine Reformpläne offenen Mitte-rechts-Mehrheit kippt.
„C’est le bordel“ [„das ist momentan ein Saustall hier in Paris“], bekennt beim Mittagessen in Sichtweite der Nationalversammlung augenzwinkernd und frei von der Leber Michèle Peyron, En-Marche-Abgeordnete aus dem Pariser Speckgürtel. Die 58-Jährige gebürtige Südfranzösin war einst Mitglied bei den Sozialisten, dann lange als Unabhängige in der Kommunalpolitik und auch mal Personalchefin in einem mittelständischen Unternehmen. „Die Episode Gelbwesten können wir uns nicht noch einmal leisten – finanziell wie moralisch nicht, das ist uns echt um die Ohren geflogen.“ Begleitet von leckerem Gemüserisotto, übt sich Peyron weiter tapfer in Analyse: „Wir haben als En Marche andersherum, als Graswurzelbewegung, angefangen, das fehlt uns jetzt in Paris, das straff Durchorganisierte.“
Martin Bohmert, Ingenieur und En-Marche-Aktivist
Wirklich? Die nationale Nominierungskommission spricht bekanntlich eine andere Sprache – sie legt eben für alle rund 30.000 Gemeinden über 9.000 Einwohner*innen fest, wer kandidiert – oder welche Bewerber*innen anderer Parteien oder Gruppierungen auf dem Ticket von En Marche fahren dürfen. Da ist alles möglich, außer einer Kollaboration mit den Ultrarechten von Le Pen. Macron und die Chefin der Rassemblement National sehen sich als Duellgegner*innen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2022.
Das Rechts-Links-Schema ist immer noch da
Die zwei Pariser Bürgermeister-Aspiranten, so nochmal Alain Auffray von Libération, stünden für die beiden Pole von En Marche: der eher rechtsliberale, klassisch auf Markt und Sicherheit gepolte (Griveaux) und der mittlerweile definitiv kleinere Pol der sozialliberal, stark ökologisch Eingestellten (Villani). Letzterer gilt als widerspenstig, ja zerrüttend – „disruptif“, so das französische Wort. Griveaux? „Langweilig, aber effektiv – und vor allem arrogant“, heißt es über ihn. Benjamin Griveaux, 41, der bis März Regierungssprecher war, gilt als rechte Hand und als Getreuer von Macron. Auf alle Fälle ist er ein nüchterner Technokrat, dem die Wähler*innenherzen nicht gerade zufliegen. Seine Pressestelle gibt sich bedeckt, auch nach mehrfachen Anfragen ist kein Interview möglich. Villani dagegen inszeniert sich zugänglich, gibt sich gerne als, O-Ton, „das wahre En Marche“ aus, so auch bei seiner begleiteten Feierabend-Metrofahrt.
„Ich bin die Partizipation und die Erneuerung“, sagt er fast flapsig und auf alle Fälle zeitgemäß griffig, kurz vor der Haltestelle La Muette im vornehm gediegenen 16. Pariser Bezirk. Dort in der Nähe hat er gleich noch in einer kolossal großen und kolossal eleganten Privatwohnung einen Termin mit Pariser Geschäftsleuten und Industriellen. Von ihnen erhofft sich Villani Unterstützung für seine anlaufende Kampagne. Streng geheim das „rendez-vous“, Medien nicht erwünscht, „au revoir, Madame“. Nur noch kurz: Wie hält er es mit seinem Konkurrenten Griveaux? Er winkt mit abschätziger Handbewegung und erstaunlich unprofessionell ab: „Den kann doch niemand leiden.“ Kann er sich vorstellen, nach der Wahl mit Griveaux zusammenzuarbeiten? „Warum fragen Sie mich nicht nach einer möglichen späteren Kooperation mit Anne Hidalgo?“, erwidert Villani fast schon bissig. Flexibilität ist alles, willkommen bei En Marche.
Amtsinhaberin Hidalgo, die eigentlich notorisch unbeliebte und trotz teilweise erstaunlicher städtischer Umweltprojekte hart kritisierte 60-Jährige, wird es freuen. Umfragen sehen sie für die erste Wahlrunde Mitte März bei rund 23 Prozent, Griveaux bei rund 16 und Villani bei etwa 14 Prozent – etwa gleichauf mit den Kandidat*innen der Republikaner und der Grünen. Zur Erinnerung: Bei den Wahlen 2017 und der Europawahl im Mai hatte En Marche auf Anhieb noch jeweils rund 34 Prozent in Paris eingefahren.
Eine Gleichung mit vielen Unbekannten
„Mal sehen, ob Griveaux und Villani nach einer eventuell erfolgreichen Rathauswahl miteinander können“, sagt Anne-Christine Lang, eine der wenigen öffentlich sich zu Villani bekennenden Parlamentar*ierinnen von En Marche. Die 58-Jährige sitzt in einer Teddyplüschjacke und bei einem zierlichen Café Noisette gegenüber dem Hôtel de Ville gleich an der Seine. „Ehrlich gesagt: eher nicht. Villani ist viel partnerschaftlicher orientiert, er erlernt gerade die Politik, wie er alles sehr schnell erlernt.“ Sein zentraler Fokus, so die frühere Englischlehrerin, sei der „überlebenswichtige Dialog“ zwischen Wissenschaft, Politik und Bürger*innen. Der Mann ließe sich einfach nicht in eine Schublade stecken, „ja, er ist auch ein Pariser Bobo, aber er kann eben auch mit Leuten, die nix haben“. Für Lang zählt letztlich am meisten, dass der Kampfkandidat mutig die vermeintliche Komfortzone in der Kapitale verlasse: „Jeder und jede bleibt doch hier gerade in ihrer Ecke. Es gibt viel Unsicherheit in der Partei.“
Dass die Chose für En Marche, aber auch für ihn persönlich in keinster Weise klar ist, das weiß auch Cédric Villani. Beim Abschied vor großbürgerlicher Pariser Kulisse sieht er es im strömenden Regen rein mathematisch: „Mein politisches Engagement ist eine von mir aufgestellte Gleichung mit vielen Unbekannten.“
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