Frankfurter Uni-Hochhaus wird gesprengt: Die Dialektik des Turms
Am Sonntag wird der Frankfurter Uni-Turm nach 41 Jahren gesprengt. Er ist ein hässlicher Riese. Aber auch ein Symbol, dem viele bereits nachtrauern.
FRANKFURT/MAIN taz | Betonbrocken werden zu Boden prasseln, Stahlsplitter die Luft zerschneiden. Der Koloss wird in sich zusammensinken, zerfetzt von 950 Kilogramm Sprengstoff, er wird zu Boden gleiten auf dem Weg in die Geschichte. Eine Staubwolke verbirgt kurz, was übrig bleibt vom Turm. 50.000 Tonnen Schutt. Es wird das Ende eines Symbols sein. Das Ende des AfE-Turms auf dem alten Frankfurter Uni-Campus Bockenheim.
116 Meter hoch wird der Turm gewesen sein, der 41 Jahre lang die Fachbereiche Gesellschaftswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Psychologie an der Goethe-Universität beheimatete. „AfE“ – der Name steht für etwas, das es schon nicht mehr gab, als der Turm fertig war: die „Abteilung für Erziehungswissenschaften“.
Bei Generationen von Studierenden galt der Turm als hässlich und dysfunktional. Ein mausgraues Monster, wie die Kulisse für ein postapokalyptisches Drama. Und doch wird um ihn getrauert. Denn am Sonntag um 10 Uhr fällt nicht einfach ein Turm. Die Sprengung bedeutet auch das Ende einer Zeitenwende, jedenfalls an der Frankfurter Uni. Mit dem Trumm verschwindet das Wahrzeichen einer bereits vergangenen Ära.
„Was soll ich mich engagieren in Russland, ändern kann ich sowieso nichts“, sagt Olympia-Teilnehmer Maximilian Arndt. Viele Sportler sehen das wie er und schweigen zu Putins Politik. Welche Gründe sie haben und wer den Mund aufmacht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. Februar 2014 . Außerdem: Die EU-Staaten überlegen, wie sie in der Zentralafrikanischen Republik intervenieren können. Eine schnelle Eingreiftruppe hätten sie: die EU Battle Group trainiert seit fast zehn Jahren, eingesetzt wurde sie noch nie. Ein Besuch bei Europas vergessener Armee. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
1972 war der AfE-Turm gegenüber dem berühmten Institut für Sozialforschung bezugsfertig, in räumlicher wie ideeller Spucknähe zur Frankfurter Schule. Obwohl deren bekanntester Vertreter, der Kritiker Theodor W. Adorno, schon drei Jahre tot war, war die Kritische Theorie en vogue. Dass ausgerechnet Soziologen, Pädagogen und Politologen das damals höchste Gebäude der Stadt bezogen, hatte Symbolcharakter. Es unterstrich den Einfluss, den die kritischen Wissenschaften zu dieser Zeit hatten. Und den sie in ihrem „Elfenbeinturm“ bis zuletzt konservierten.
„Wer das Kapital liest, hat keins“
Zwischen Trägern aus Stahlbeton, ewig provisorischen Kunststoffwänden, neongefluteten Fluren, zwischen Zigarettenqualm, Sperrmüllsofas und muffigem Teppichboden wurde die Frankfurter Schule durch ihre zweite und dritte Generation weitergeführt. Aber kritische Theorie stand nicht nur auf dem Lehrplan, sondern auch an den Wänden, stille Zeugen kontroverser Auseinandersetzungen: „Lest mehr Marx“ stand dort geschrieben. „Wer das Kapital liest, hat keins“ direkt daneben. Und für alle galt: „Still not lovin’ Hausmeisterism!“
Das Hochhaus war manifestierte Dialektik. Die unzähligen Farbschichten verbargen Weisheiten und Graffitis – und ließen die überfüllten Fahrstühle über die Jahre in ihrem Volumen schrumpfen. Keine Wand blieb lange weiß, mit jedem neuen Anstrich brach der dialektische Kampf um Raumaneignung und Paradigmen aufs Neue aus.
Das Foyer, das auch einer Art Gartenlaube für die Hausmeister Platz bot, war mit seinen hohen Decken einer der wenigen Räume, in denen man kein beklemmendes Gefühl bekam. In den Seminarräumen musste man sich den Quadratmeter häufig mit mehr als drei Personen teilen. Auf junge Studenten konnte der Turm einschüchternd wirken mit all seiner Wucht von Meinungsstärke und Freiheit.
Es ist ein Gegenentwurf zu den glasverkleideten Bankenhochhäusern Frankfurts – das im Stil des Brutalismus erbaute Ungetüm aus Stahlbeton. Der rohe, schnörkellose Beton – der „béton brut“ – steht für eine Ästhetik der Askese, für Sein statt Schein. Und doch war der Blick aus diesem schmucklosen Bau erhaben, bis zum Taunus reichte er, das bürgerliche Frankfurter Westend lag dem Betrachter zu Füßen.
Das am häufigsten besetzte Uni-Gebäude Deutschlands
Für alle, die dem Turm seinen besonderen Geist einhauchten, zählte der Inhalt. Kritische Seminare und autonome Tutorien, Graffitis, das selbstverwaltete Turm-Café. Hier wurden Proteste geplant – oder gleich der ganze Turm besetzt, der sich für diesen Akt studentischen Widerstands besonders gut eignete. Die Anleitung zur Besetzung war simpel und effektiv: „Die Aufzüge nach oben fahren lassen, die Türen mit Tischen blockieren und dann die Treppenhäuser in den ersten zwei, drei Stockwerken mit Stühlen auffüllen.“ Angeblich ist der Turm das am häufigsten besetzte Uni-Gebäude Deutschlands.
Zur besonderen Geschichte des AfE-Turms gehört auch, dass die im Brutalismus angestrebte Funktionalität nie erreicht wurde. Aufgrund baulicher Mängel und des allmählichen Verfalls funktionierte vieles nicht: Im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiß, der Brandschutz war ungenügend. Obwohl man die Fenster nicht öffnen konnte, zog der Wind mit einem Furcht einflößenden Pfeifen durch den Turm, besonders in den Fluren der oberen Stockwerke.
Häufig fielen die Fahrstühle aus, und man musste Dutzende Stockwerke zu Fuß zurücklegen. Beliebt waren dann die Nottreppen, die an Feuerleitern erinnerten: In einem schmalen Treppenhaus führten sie von ganz unten bis in den 37. Stock. In den letzten Jahren wurde ein Aufzug komplett stillgelegt, um als Ersatzteillager für die anderen zu dienen.
Vor knapp einem Jahr wurde der Turm geschlossen und verriegelt, das Foyer ist mit Bauzäunen und Natodraht gesichert – aus Angst vor Besetzungen. Dort, wo bis Sonntagmorgen der graue Riese in den Himmel ragt, sollen nun neue Türme gebaut werden. Die Hochhäuser sollen Teil eines „Kulturcampus“ werden, einer Mischung aus Hotels, Wohnen, Arbeiten und Kultur. So wünscht sich das die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG, die das Gelände in Bockenheim 2011 erworben hat.
Prestigebauten für 500 Millionen Euro
Das studentische Leben spielt sich indes längst auf dem neuem Campus Westend ab, der rund um das geschichtsträchtige I.G.-Farben-Haus errichtet wurde. Das in den 1920er Jahren vom Meisterarchitekten Hans Poelzig entworfene Gebäude war der Sitz des größten Chemiekonzerns der Welt, der später von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde.
Heute steht dort ein Campus, der wie das Gegenteil des Turms anmutet: teurer Naturkalkstein statt roher Beton, monumentale Prestigebauten statt asketischer Architektur. 500 Millionen Euro hat das gekostet. „Ein echter Qualitätsgewinn“, befindet der Sprecher der Universität stolz. Deren ehemaliger Präsident hält den neuen Campus für den „schönsten des Kontinents“. Alles scheint reibungslos zu funktionieren.
Doch genau daran stören sich Turm-Nostalgiker. Anfang letzten Jahres sind 10.000 Studierende und 1.000 Uni-Mitarbeiter aus dem alten Hochhaus auf das neue Gelände umgezogen. Und gleich gab es Ärger: Parolen jeglicher Art gehören dort nicht an die Wände – und werden unter Hochdruck entfernt. Nicht nur Graffitis sucht man im Westend vergeblich. Studierende beklagen das Fehlen selbstverwalteter Räume. Auch das Biotop aus fliegenden Buchhändlern, Obdachlosen und Kneipen, das rund um das Bockenheimer Unigelände entstanden war, wird im Westend wohl kein Zuhause finden.
Für die einen ist all dies das kapitalistische Übel. Für die anderen: ein Segen. Für alle Beteiligten jedenfalls bedeutet es eine Veränderung – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn die Transformation an der Frankfurter Uni ist total.
Kaum noch Zeit für Protest
Mit der Jahrtausendwende wurde im Zuge der Bologna-Reform an europäischen Hochschulen sukzessive das Bachelor- und Mastersystem eingeführt. Das Ziel: ein schnelleres und effizientes Studium. Wie ein gallisches Dorf, das der Übermacht aus Bologna trotzt, feierten die Gesellschaftswissenschaften im Turm noch vor wenigen Jahren das 50-jährige Jubiläum der alten Diplomstudiengänge. Inzwischen sind auch sie auf dem neuen Campus angekommen – und im neuen System, in dem kaum noch Zeit bleibt für Protest.
Im Schatten dieser Veränderungen hat sich die Frankfurter Goethe-Universität vor sechs Jahren außerdem die Rechtsform einer Stiftungsuniversität gegeben. Dies vergrößerte ihre Autonomie – auch in finanziellen Fragen – und bescherte der Hochschule zusätzliches Geld, gestiftete Lehrstühle und eine nie dagewesene Nähe zur Frankfurter Finanzindustrie. Es gibt jetzt einen „Deutsche Bank Hörsaal“. Im videoüberwachten „House of Finance“. Es ist so sehr die Antithese von dem, was der Turm war. Es ist, als hätte es den Turm nie gegeben.
Es gibt polierte Hörsäle. Es gibt eine Forschung, die exzellent genannt wird. Moderne Arbeitsplätze. Doch es fehlen Möglichkeiten zur Selbstgestaltung, es fehlen Räume, es fehlt Zeit. „ ’Die Universität ist einer der letzten Orte in dieser Gesellschaft, an denen diese Freiheit eingeübt werden kann!‘ Horkheimer“ – das hatte jemand auf eine der Betonmauern des Turms gekritzelt.
Ein Teil dieser Freiheit wird am Sonntagmorgen in Frankfurt gesprengt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen