Fragwürdige Abschiebepraxis: Berliner Schandtaten
Berlin lässt abgelehnte Asylbewerber von Delegationen aus vermuteten Herkunftsländern „begutachten“. Auch Abdul A. droht deshalb die Abschiebung.
Abdul A. war zwölf Jahre alt, als er zusehen musste, wie sein Vater erschossen wurde. So erzählt es der heute 19-Jährige, der eigentlich anders heißt. Mit der taz sprach er über seine Fluchtgeschichte – und darüber, wie er Ende Februar von Berliner Polizisten in einem Mannschaftswagen zusammengeschlagen worden sei. Anschließend sei er vor eine Delegation aus Guinea gezerrt worden, die seine Herkunft bestätigen und so seine Abschiebung ermöglichen sollte.
Abdul besitzt, wie viele Asylsuchende, keine Identitätspapiere. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Einige Asylsuchende haben nie welche besessen, manche ihre Papiere auf der Flucht verloren, andere haben sie aus Angst vor Abschiebungen vernichtet. Für die europäischen Zielstaaten ist das ein Problem, denn in einer Welt voller Grenzen und Behörden gibt es ohne Papiere auch keine Abschiebungen. So begann die Bundesrepublik Deutschland damit, Delegationen aus Herkunftsstaaten einzuladen, damit diese abgelehnten Asylsuchenden Passersatzpapiere ausstellen – womit die Abschiebung der Geflüchteten ermöglicht wird.
Eine solche Delegation aus Guinea befand sich vom 22. Februar bis zum 5. März in Berlin, wie ein Sprecher der Senatsinnenverwaltung der taz bestätigte. Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte zuvor auf einem Pressetermin im Görlitzer Park geprahlt, in 15 von 22 Fällen seien bereits „Dealer“ identifiziert worden. Die taz berichtete. Die Springerpresse auch, unter dem Titel „Görli-Dealer zurück nach Westafrika!“ Nach diesem Auftritt warfen Gruppen wie die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland Geisel Rassismus vor.
Die Delegationsvorführungen werden seit Langem kritisiert. Der Freitag berichtete schon 2016 von Falschidentifizierungen. Der damalige Artikel zitiert ein Bremer Gericht, das kritisierte, dass Papiere wohl auch auf Basis von Kopf- und Körperformen ausgestellt würden. Ein Sprecher der Innenverwaltung erklärte auf taz-Nachfrage, derartige Praktiken gebe es in Berlin nicht. Dagegen fragt Aissatou Cherif Balde von der Initiative Guinée Solidaire: „Wie sollen die Delegationen sonst entscheiden, wenn die Begutachteten sich weigern zu sprechen? Und selbst wenn sie reden: Die Grenzen in Afrika sind fiktiv, von europäischen Kolonialherren mit dem Lineal gezogen. Das Ganze ist Wahnsinn.“
„Neokoloniale Abhängigkeiten“
Laut Balde haben afrikanische Regierung häufig keine andere Wahl, als mit den europäischen Staaten zu kooperieren. Sie seien „in die neokolonialen Abhängigkeiten des globalen Kapitalismus eingebunden“. Wie aus Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht, werden die Tätigkeiten der Delegationsmitglieder zudem durch finanzielle Aufwendungen versüßt: So erhielt etwa die guineische Delegation 2020 Tagesgelder von 100 Euro pro Person – neben insgesamt über 20.000 Euro für Unterkunft, Verpflegung, Anreise, Dolmetscher:innen und „sonstige Kosten“. Delegierte anderer westafrikanischer Länder lassen sich pro ausgestelltem Passpapier – also pro Abschiebung – bezahlen.
Auch Abdul A. soll nun nach Guinea zurück, obwohl er, wie er sagt, über keinerlei Beziehungen mehr dorthin verfügt. Der 19-Jährige erzählt seine Fluchtgeschichte langsam und leise. Seit Jahren wird er wegen Posttraumatischer Belastungsstörung und seiner schweren Depression psychotherapeutisch behandelt. Nach dem Tod seines Vaters sei plötzlich alles vorbei gewesen, erzählt er: seine Schule, sein Leben, seine Zukunft. Er habe sich deshalb mit seinem Freund Mahmoud, selbst kaum älter als der damals 12-jährige Abdul, aufgemacht. „Wir haben niemandem Tschüss gesagt“, erinnert er sich.
Die Jungen verdienten ihr Geld auf Baustellen und mit Putzen von Autos. Ein Jahr brauchten sie, um das Mittelmeer zu erreichen. Doch nach Europa schafften sie es nicht gemeinsam – Mahmoud überlebt die Überfahrt nicht. Sein völlig überladenes Plastikboot legt einen Abend vor Abduls ab. Es kentert, fast alle Passagiere ertrinken. Auch Mahmoud.
Abdul A. hingegen überlebt. Sein Boot wird von einer militärischen Patrouille abgefangen, vermutlich Frontex. Die Soldaten bringen die Schutzsuchenden zurück zur nordafrikanischen Küste, nach Melilla, einer noch aus Kolonialzeiten entstammenden spanischen Enklave auf marokkanischem Gebiet. Drei weitere Monate muss A. in einem Auffanglager ausharren.
In Berlin geht es A. zunächst besser
Doch auch in Europa endet die Tortur nicht: In der überfüllten spanischen Unterkunft gibt es keine Schule, keine Arbeit, kein Leben. Also macht sich der nun 13-Jährige erneut los in Richtung Norden. An Polizisten und Grenzen vorbei kämpft er sich bis nach Hamburg. Hier bringt ihn eine Frau zur Arbeiterwohlfahrt, wo der Junge seinen Asylantrag stellt. Die Behörde verteilt ihn daraufhin in ein kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern.
Doch als einziges Kind mit dunkler Hautfarbe ist das Leben dort nicht leicht. Abdul wird gemobbt, auf der Straße ruft man ihm das N-Wort hinterher. Einmal wird er in der Schule attackiert. Seine Deutschlehrerin setzt sich für ihn ein, ohne Erfolg, die Tat bleibt folgenlos. Als er 15 Jahre alt ist, wird sein Asylantrag abgelehnt. Eine Begründung, so sagt A., sei ihm nie mitgeteilt worden. Schließlich verprügeln ihn drei Männer am helllichten Tag auf einem Basketballplatz so sehr, dass sie seine Schulter permanent beschädigen.
Die Welt will Abdul A. also auch in Mecklenburg nicht leben lassen. Er flieht erneut, diesmal nach Berlin. Hier werden die Dinge etwas besser. Ein Mann aus Gambia bringt A. in seine Wohnung. Er verbringt viel Zeit im Krankenhaus wegen der Schulter. Hier lernt Abdul auch seine spätere Freundin kennen, eine Berlinerin. Abdul belegt Deutschkurse, inzwischen spricht er fast fließend Deutsch.
Die Gegenwart ist erreicht: Am 22. Februar gerät Abdul in der Nähe des Görlitzer Parks auf dem Weg zum Einkaufen in eine Personenkontrolle. Als herauskommt, dass er ein abgelehnter Asylbewerber aus Guinea ist, nehmen die Polizisten ihn sofort fest. Man sei ohnehin auf der Suche nach „relevanten Personen zur Vorstellung vor der guineischen Expertenkommission“ gewesen, schreibt eine Sprecherin der Polizei der taz.
Polizei erstattet Anzeige
Er sei in Handschellen gelegt und in den Mannschaftswagen gestoßen worden, erzählt A. Hier habe er auf dem Boden gelegen, ein Beamter hätte mit seinem Fuß auf seinen Hals gedrückt. Sie hätten ihn als Dealer beschimpft, ihm gesagt, dass er schon morgen abgeschoben würde. Dann: Schläge und Tritte, immer wieder. Schließlich habe jemand seinen Kopf genommen und mehrfach gegen die Wand des Polizeiwagens geschmettert. A. zeigt auf eine Kopfverletzung, die immer noch zu sehen ist. Er habe angefangen, laut zu beten, auf Arabisch, da habe ein augenscheinlich türkischer Polizist abgelassen. Der sei daraufhin sofort von den anderen Beamten angegangen worden. Warum er nicht mitmache, hätten sie ihn angekeift.
Auf taz-Nachfrage schreibt die Polizei, es seien keine Ermittlungen gegen beteiligte Polizeibeamte eingeleitet worden. Im Gegenteil: Man habe am fraglichen Tag und am fraglichen Ort Ermittlungen gegen einen guineischen Asylsuchenden unter anderem wegen eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte eingeleitet. Im Schreiben der Polizei heißt es auch, der Festgenommene habe „mehrmals mit seinem Kopf gegen die Scheibe des Polizeifahrzeuges geschlagen“. Die Polizisten hätten versucht, den Mann zu beruhigen, doch dieser habe die Beamten „in Rage“ attackiert. Zudem werden einige Coronaverstöße gelistet.
Im Klartext: Die Polizei zeigt Abdul A. an, nicht umgekehrt. Dieses Vorgehen ist in Fällen vermeintlicher Polizeigewalt üblich. Unklar bleibt, warum A. seinen eigenen Kopf mehrfach gegen die Wand des Polizeifahrzeuges gehämmert haben sollte. Auch will die Polizei nichts von einer blutenden Kopfverletzung oder davon gewusst haben, dass er nach seiner Festnahme gehumpelt habe. A. selbst hat keine Anzeige erstattet: Er wisse, dass das nichts bringe, sagt er.
Noch am selben Tag habe man ihn zur Delegation gezerrt, blutend und humpelnd. Diese habe im ehemaligen Flughafen Tegel getagt. „Keine zehn Minuten“ habe die Befragung gedauert. Die drei guineischen Beamten hätten ihn lediglich nach seinem Geburtstag und nach einigen Städtenamen Guineas gefragt. Sie seien nicht nett gewesen. Mehrfach habe er versucht, ihnen seine Geschichte zu erzählen. „Das wollen wir nicht wissen“, hätten sie barsch geantwortet.
Zwei Selbstmorde
Das Urteil der Befragung: Abdul A. ist guineischer Staatsbürger. Reiseersatzpapiere können ausgestellt, die Abschiebung kann eingeleitet werden. Nur noch eine medizinische Untersuchung durch das Gesundheitsamt stehe der Abschiebung seitdem im Weg, sagt A. Den ersten Termin für diese verpasste er. Denn kurz nach seiner Befragung bricht Abdul A. zusammen. Mehrere Wochen verbringt er im Krankenhaus, die Gewalt war wohl zu viel für die ohnehin schwer belastete Psyche des jungen Menschen.
„Wo immer diese Delegationen hinziehen, überall lösen sie in den Communitys Existenzängste und Panik aus“, sagt Balde von Guinée Solidaire der taz. So nahmen sich erst Mitte März die beiden Asylsuchenden Alpha Oumar Bah und Salah Tayyar das Leben, die taz berichtete. Ein Sprecher der Senatsinnenverwaltung will aber keinen Zusammenhang zwischen Suiziden und Abschiebedelegationen sehen: Es seien „fast ausschließlich“ Kriminelle vorgeladen worden, keiner der beiden Toten sei dabei gewesen. Balde erzählt dagegen, immer wieder würden Menschen abgeschoben, die in der Ausbildung stehen oder in Deutschland arbeiten. Niemand fühle sich vor den Delegationen sicher.
Auch nach ihrer Abreise aus Berlin tourt die guineische Delegation weiter durch Deutschland. Abdul hingegen hat nun mithilfe einer engagierten Anwältin mehrere Berufungsverfahren gegen seine Abschiebung eingelegt. Seine Situation bleibe aber weiterhin unsicher, sagt er. Die Mecklenburger Ausländerbehörde drohe ihm mit Abschiebehaft, auch da er sich weiterhin weigere, nach Mecklenburg zurückzukehren.
Abdul A. sagt, eher würde er sich umbringen. Dennoch hält er sich am Silberstreif der Hoffnung fest: Er will eine Ausbildung beginnen. Seine Nachricht an die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist kurz und prägnant: „Wir sind nur hier, um zu leben. Einfach nur um zu arbeiten und zu leben. Bitte versteht das.“
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