Fotograf Timm Rautert im Museum Folkwang: Künstler mit vielen Handschriften
Das Museum Folkwang in Essen widmet Timm Rautert eine große Retrospektive. Der vielseitige Fotograf feiert dieses Jahr seinen 80. Geburtstag.
Schon auf den ersten Metern der umfassenden Retrospektive „Timm Rautert und die Leben der Fotografie“ kommt Verwirrung auf: Wo ist sie denn nun zu erkennen, die Handschrift des Fotografen Timm Rautert? In der experimentellen Variationsreihe von 1967, die Detailaufnahmen des Glühfadens einer Glühbirne zeigen?
In den dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus New York von 1969? Im kunstvollen, mit Spiegelungen arbeitenden Porträt des großen tschechischen Fotografen Josef Sudek? In den Werken der „Bildanalytischen Photographie“, die grundlegende Fragen an die Kunstform stellen? Wahrscheinlich ist sie am ehesten aus dem Porträt seines Fotografie-Professors Otto Steinert herauszulesen.
„Timm Rautert und die Leben der Fotografie“ läuft noch bi 16. Mai im Folkwang Museum Essen. Offen mit negativem Coronaschnelltest. Der Katalog (Steidl Verlag) 48 Euro.
In den 1960er Jahren studierte Timm Rautert an der Vorgängerin der Folkwang Universität der Künste in Essen, und als Steinert 1967 für einen Katalog seine Schüler*innen porträtierte, bat Rautert darum, die Situation einmal umkehren zu dürfen.
Entstanden ist ein Porträt, das auf den ersten Blick einen typischen Macht-Mann aus der Kunstwelt seiner Zeit zeigt: Steinert sitzt mit Lackschuhen, schwarzem Anzug, weißem Wollkragenpullover, Hornbrille, dicker Zigarre zwischen den Fingern mit stolzem, herausforderndem Blick aufrecht auf einem unsichtbaren Stuhl oder Hocker.
Die Figur bekommt etwas gedrungenes
Timm Rautert räumt seiner Gestalt allerdings nur ein Drittel des Bildes (die Mitte) ein, Kopf und Schuhe sind angeschnitten. Dadurch bekommt die Figur Otto Steinert etwas Gedrungenes, Zusammengeschrumpftes, auch Flüchtiges, vielleicht Verletzliches. Porträtierten und Porträtierenden einten harte Kriegserfahrungen.
Steinert hat unter anderem als Stabsarzt am Russlandfeldzug teilgenommen, wandte sich nach dem Krieg von der Medizin ab und der Kunst zu. Der Vater des 1941 im westpreußischen Tuchel geborenen Rautert fiel 1943 in Russland, nach dem Krieg floh seine Mutter mit ihm nach Fulda.
Als er nach seiner Gestalter-Lehre zum Fotografie-Studium gefunden hatte, entwickelte er schnell Spaß am Experiment mit der Technik und am Spiel mit den Formen. Als Abschlussarbeit wollte sein Professor die „Bildanalytische Photographie“ allerdings nicht akzeptieren.
Wie Gisela Parak im brillant editierten Ausstellungskatalog herausarbeitet, stand Steinerts Lehre der Emanzipation der Fotografie als freiem künstlerischen Ausdrucksmittel skeptisch gegenüber: „Sie zielte eher auf die berufliche Anschlussfähigkeit angehender Bildjournalisten ab.“ So bewegte sich Timm Rautert zeitlebens zwischen zwei Polen: Kunst und Journalismus.
Das Flugzeug in den Lüften
Die selbstreflexive Praxis der „Bildanalytischen Photographie“ behielt er auch Jahre nach Abschluss seines Studiums noch bei. In der Ausstellung hängt etwa „Boeing 737“ von 1974, eine zweiteilige Arbeit: Der erste Teil zeigt die Hochglanz-Postkarte einer Boeing mit Lufthansa-Emblem, die majestätisch in blauen Lüften schwebt.
Im zweiten Teil hält der Fotograf diese Postkarte vor seine Linse und zeigt den eher trist wirkenden Innenraum des Großflugzeugs, in dem die Passagiere in gelben Sitzen zusammengepfercht und -gesunken sitzen.
Das Hauptwerk des Fotografen Timm Rautert machen allerdings nicht solch anregende Reflexionen aus, sondern journalistische Arbeiten und Porträts. Für das Zeit-Magazin lieferte er Bilder zu Reportagen über behinderte Kinder, jugendliche Problemfälle oder Obdachlose.
Er schaffte es, Zugang zu den abgeschottet lebenden Amischen in den USA zu finden, ihr gemeinschaftsorientiertes, der Moderne mit ihrer Technologie abgewandtes Leben einzufangen – und dabei in seinen Bildern sogar ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass er selbst dort wie ein Fremdkörper gewirkt hat und das Medium der Fotografie bei seinen „Objekten“ eigentlich auf deutliche Ablehnung stieß.
Warum die Philharmoniker?
Ähnlich berückende Aufnahmen gelangen ihm, als er den befreundeten Journalisten Michael Holzach besuchte, der ein Jahr bei der Volksgruppe der Hutterer in Kanada verbrachte. Solche Projekte erzählen zum einen von der Zeit nach 1968, als weite Teile der Gesellschaft die materialistische Lebenseinstellung hinterfragten, und zum anderen von einer goldenen Ära des (Print-)Journalismus, in dem solche ambitionierten Vorhaben Unterstützung fanden.
Diese Bilder heute museal auszustellen ergibt durchaus Sinn. Verwunderlich ist hingegen, wenn eine komplette Wandlänge für Timm Rauterts Begleitung der Berliner Philharmoniker reserviert ist und einen Abdruck einer Buchveröffentlichung über das Orchester von 1987 zeigt. Auch wenn die Motive aus der Welt der Kultur stammen, gehören sie doch eher in die Welt der Gebrauchsfotografie für den Marketing-Bereich.
Berühmt geworden sind Timm Rauters Porträts bekannter Persönlichkeiten wie Andy Warhol oder Joseph Beuys. Faszinierender ist seine Serie mit Ganzkörper-Porträts vor neutralem Hintergrund von „Deutschen in Uniform“: Da hängt das Bild der Schwesternschülerin neben dem des Polizisten, des Soldaten, der Pfarrer, der Schaffnerinnen oder der Karnevalisten. Die Bilder schwanken zwischen der Würde eines Amts, dem Ausstellen deutscher Spießigkeit, freiwilliger und unfreiwilliger Komik.
Und wenn man sich gerade entschieden hat, dass Rauterts originäre Handschrift doch am ehesten in seinen Porträts zu finden ist, gerät man an seine arbeitssoziologischen Werke aus der Serie „Gehäuse des Unsichtbaren“, wo der Mensch hinter komplizierten Industrie-Maschinen verschwindet – oder an die späten, abstrakt-künstlerischen Arbeiten des inzwischen als Hochschulprofessor für Fotografie in Leipzig Wirkenden.
So ist der Ausstellungstitel Programm: Timm Rauterts Leben hat sich tatsächlich aufgerieben, aber auch brilliert in den vielen Leben der Fotografie nach dem Zweiten Weltkrieg.
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