Forschung zum Anthropozän: In welchem Zeitalter wir leben
Hat der Mensch die Erde so verändert, dass wir eine neue Epoche ausrufen müssen? Forschende haben nun einen Referenzpunkt benannt.
Die Arbeitsgruppe befasst sich seit 2009 mit der Frage, ob die Menschheit nicht mehr im Holozän, sondern vielmehr bereits im Anthropozän lebt. Das Konzept, das der niederländische Meteorologe und Chemienobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 bekannt machte, speist sich von der Idee, dass der Mensch (Griechisch: anthropos) das Wesen seines Heimatplaneten durch moderne technische Entwicklungen tiefgreifend und unwiderruflich verändert. 2019 entschied sich die Arbeitsgruppe bereits für diese These.
Jetzt fiel ihre Entscheidung also auf den Crawford Lake nahe Toronto als geologischen Referenzpunkt. Für seine überschaubare Größe ist er mit 24 Metern recht tief. Sein entsprechend ruhiges Tiefenwasser ermögliche eine ungestörte Sedimentablagerung, erklärte Francine McCarthy, Professorin für Geowissenschaften an der Brocks University in Ontario. Die jährlichen Schichten des Sediments seien besonders gut unterscheidbar und bildeten so ein stabiles geologisches Archiv.
Als zuverlässigsten Marker für den Beginn des Anthropozäns entschieden sich die Forschenden für Isotope aus oberirdischen Atomwaffentests, die 1945 begannen. Die Explosionen verteilten die Isotope Plutonium-239 und Plutonium-240 als Spuren auf dem gesamten Planeten. Im Crawford Lake sei das Plutonium ab Ende der 1940er Jahre zu finden, mit einem schnellen Anstieg ab 1950. Mit diesem Jahr soll das Anthropozän laut der Arbeitsgruppe begonnen haben.
Doch kein neues Zeitalter?
Zuvor hatten Forschende weltweit Vorschläge für Orte eingereicht, an denen sich der menschliche Einfluss in Ablagerungen messen lässt. Am Ende waren neun Vorschläge übrig geblieben, zwischen denen sich die Arbeitsgruppe entscheiden musste. Unter den Orten, die es letztlich nicht geschafft haben, waren etwa das Flinders Korallenriff vor der Küste Australiens, das Torfmoor auf dem Berg Schneekoppe im polnischen Riesengebirge und ein Eisbohrkern auf der antarktischen Halbinsel.
Auch andere Erdzeitalter haben bereits geologische Marker, symbolisiert durch einen goldenen Nagel. Am Kuhjoch im österreichischen Karwendelgebirge etwa verweisen so ein Golden Spike und eine Erklärtafel auf den Übergang vom Trias zum Jura vor gut 200 Millionen Jahren – der Beginn des Dinosaurierzeitalters.
Mit ihrer Entscheidung ist die Arbeitsgruppe aber noch nicht am Ziel. Sie arbeitet darauf hin, dass sich nach einer weiteren Abstimmung in einer untergeordneten Kommission auch die International Commission on Stratigraphy (ICS) dem Vorschlag zustimmt, das Anthropozän als neue Epoche zu fassen. Sie entscheidet als Unterorganisation der größten geologischen Gesellschaft in letzter Instanz über den Antrag. Die endgültige Ratifizierung könnte im August 2024 erfolgen, heißt es in einer Mitteilung der Max-Planck-Gesellschaft – wenn der Vorschlag eine Mehrheit findet.
Das ist allerdings keineswegs ausgemacht. Unter den Geolog*innen gibt es auch abweichende Stimmen, die sich gegen die Idee richten, das Anthropozän offiziell als neue Epoche einzustufen. Folgt man dem Generalsekretär der ICS, Philip Gibbard, ist das Holozän, das vor rund 11.700 Jahren begann, bereits das Zeitalter des Menschen. Damals erwärmte sich die Erde, sodass homo sapiens sesshaft werden und Tiere und Pflanzen domestizieren konnte. Eine Neubestimmung wäre demnach überflüssig.
Manche Kritiker*inner wollen den Anstieg des menschlichen Einflusses stattdessen lediglich als „Ereignis“ fassen, ähnlich der sogenannten Großen Sauerstoffkatastrophe vor etwa 2,4 Milliarden Jahren. Zu dieser Zeit stieg unter anderem die Sauerstoffproduktion durch Photosynthese rasch an, was den Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre erhöhte.
In der Folge wurde das Treibhausgas Methan schneller abgebaut, was die Erde abkühlte und vereisen ließ. Viele Einzeller, die zuvor gut ohne Sauerstoff ausgekommen waren, starben. Folgt man diesen Kritiker*innen, so sollten neuerliche Entwicklungen, wie der rasante CO₂-Anstieg in der Atmosphäre, eher als ein solches plötzliches Ereignis angesehen werden – und nicht als Epoche für sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch