Forschung für Alzheimer-Medikamente: Eine Theorie zum Vergessen
Trotz der jüngsten Zulassung eines Mittels gegen Alzheimer: Es ist höchste Zeit, sich der schweren Demenzerkrankung nochmals neu zu nähern.
Es war am 10. Juni dieses Jahres, als Aaron Kesselheim das Spiel nicht mehr mitspielen wollte. Als dritter Experte verließ der Medizinprofessor der Harvard University in Boston, Massachusetts, ein Beratungsgremium, das die US-Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) zu neuen Therapien für neurodegenerative Erkrankungen berät. Kurz zuvor hatte sich das Komitee fast geschlossen gegen die Zulassung eines Alzheimermedikaments ausgesprochen, dem ersten Mittel gegen die gefürchtete und häufige Form der Demenz, das seit vielen Jahren auf den Markt drängte.
Doch die FDA ignorierte das Votum seiner eigenen Experten – und ließ die Arznei mit dem Markennamen Aduhelm in einem beschleunigten Verfahren zu. Während viele Patient:innen und Ärzt:innen jubelten, schrieb Kesselheim in einem Brief an die FDA, das grüne Licht für Aduhelm sei die „schlimmste Entscheidung über eine Medikamentenzulassung in der jüngeren US-Geschichte.“ Was war da passiert?
Es geht um mehr als eine Fehlentscheidung und es geht um mehr als ein Medikament, das umstritten ist, weil robuste Belege für seine Wirksamkeit fehlen. Aduhelm mit seinem schwer auszusprechendem Wirkstoff Aducanumab vereint vielmehr alle Probleme, unter der die Alzheimerforschung derzeit leidet.
Da ist der Druck, einer wachsenden Zahl von Patienten nach drei Jahrzehnten intensiver Forschung endlich eine mehr oder weniger effektive Arznei anzubieten und die horrenden Forschungsgelder wieder wettzumachen. Da waren, nicht nur im Fall von Aducanumab, zuletzt viele klinische Studien mit niederschmetternden Resultaten. Vor allem aber ist da ein Tunnel, in den sich die Forschung schon vor langer Zeit hineinbegeben hat und aus dem sie trotz wachsender Kritik in den vergangenen Jahren nicht mehr herauszufinden vermochte.
Eine über 100 Jahre alte Idee
Fast alle Medikamente, die seit den 1990er Jahren gegen Alzheimer entwickelt werden, fußen auf der immer gleichen Idee, Eiweißablagerungen im Gehirn von Erkrankten seien für den geistigen Verfall der Erkrankten verantwortlich. Entdeckt hatte diese Ablagerungen schon Alois Alzheimer höchstselbst, als er vor mehr als 100 Jahren das Gehirn seiner toten Patientin Auguste Deter untersuchte. Schon Alzheimer glaubte, der heillose mentale Zustand von Auguste und die Zerstörungen in ihrem Hirngewebe müssten von den Plaques, den Ablagerungen herrühren.
Es sollte zwar noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Eigenschaften der Plaques, die sich auch im Gehirn vieler anderer Demenzkranker fanden, genauer analysiert werden konnten. Heute sind jedoch sehr viele molekulare Details bekannt: zu dem Eiweiß selbst, das Beta-Amyloid heißt und den wasserunlöslichen Rest eines abgebauten größeren Eiweißes darstellt. Zu den Enzymen, die an der Entstehung von Beta-Amyloid beteiligt sind. Oder zu den Genen, welche die Enzyme und andere beteiligte Biomoleküle kodieren.
An der Vermutung, die Ablagerungen seien die Ursache der von Alzheimer entdeckten Demenz, änderte sich dabei wenig. Entsprechend suchte man Arzneien, die Beta-Amyloid beseitigen oder seine Entstehung gleich ganz verhindern – und damit auch Alzheimer stoppen.
Aducanumab ist nicht das erste Mittel, das dieses Versprechen in den vergangenen Jahren einlösen sollte. Andere heißen Solanezumab, Lecanemab, Donanemab, Crenezumab und Gantenerumab. Die Ähnlichkeit der zungenbrecherischen Namen verrät, dass es sich bei all diesen Medikamenten um sogenannte Antikörper handelt. Es sind Biomoleküle, wie sie auch natürlich im menschlichen Körper vorkommen. Sie heften sich jeweils hochspezifisch an sehr kleine Strukturen und lassen sich mittlerweile gezielt im Labor als Medikament herstellen, zum Beispiel, um Coronaviren im Körper abzufangen – oder um Eiweißmüll im Gehirn einzusammeln.
Müllsammler im Gehirn
Letzteres tun Aducanumab und Co tatsächlich. Schon in den ersten Studien an Patient:innen zeigten Scans einen Rückgang der Beta-Amyloid-Ablagerungen. Die Euphorie kannte fast keine Grenzen. Die Enttäuschung allerdings auch nicht. Wie sich zeigte, kann der Räumeffekt Alzheimer nicht wie erwartet stoppen.
Zahlreiche Wirksamkeitsstudien zu den „mabs“ mussten vorzeitig abgebrochen werden. Sowohl Solanezumab von Eli Lilly als auch Gantenerumab von Roche, Crenezumab von Genentech und schließlich auch Aducanumab von Biogen versagten in den entscheidenden Tests an echten Patient:innen. Der geistige Verfall wurde trotz Plaqueräumung nie zum Halten gebracht, geschweige denn umgekehrt. Und während die Hersteller nicht aufgeben wollten und weiter versuchten, aus ihre Daten zulassungsrelevante Mini-Effekte herauszurechnen, zogen nicht wenige den Schluss, dass der Angriff auf Beta-Amyloid gescheitert sei, zumindest als alleiniger Ansatz.
Viele Wissenschaftler:innen des Felds fordern schon länger ein Umdenken. Einer von ihnen, der Neurobiologe Karl Herrup, hat seine Kritik an der verbohrten Alzheimerforschung sogar als Buch aufgeschrieben. „Wie man eine Krankheit nicht erforscht“ lautet der Titel, es ist erst vor wenigen Wochen erschienen (MIT Press) und beschreibt detailliert, an welchen Punkten die Forschung auf ihrem Weg zu einem Alzheimermedikament entscheidende Abzweigungen verpasst hat. Zugleich versucht Herrup, der an der University of Pittsburgh School of Medicine lehrt und selbst zu Alzheimer forscht, Wege zu neuen Ansätzen zu zeigen. Wege, die dem Charakter der schwer zu definierenden Krankheit Alzheimer womöglich sehr viel gerechter werden als die Suche nach der besten pharmakologischen Müllabfuhr.
Herrup ist nicht allein mit dem Wunsch, die simpel gestrickte Beta-Amyloid-Hypothese durch ein holistisches Modell der Alzheimerentstehung zu ersetzen, eines, in dem das komplexe Zusammenspiel vieler verschiedener Zellen im Gehirn angemessen berücksichtigt wird. Darunter sind Zellen, die Entzündungen bekämpfen, die Nervenzellen stützen, ernähren und Ordnung schaffen. Sie kommunizieren über Botenstoffe, sorgen für Nachschub an lebenswichtigen Ionen und transportieren auch den Müll aus dem Gehirn. Bislang wurden sie im Zusammenhang mit Alzheimer kaum beachtet.
Zweifel bereits seit Jahren
Bart de Strooper und Eric Karran von der Universität Leuven und dem University College in London schrieben allerdings schon vor fünf Jahren im Fachblatt Cell, es müsse nach Jahrzehnten der Forschung an symptomatischen Alzheimerpatient:innen nun darum gehen, die biochemischen Prozesse der frühen Erkrankungsphase zu verstehen – jener Phase, in der das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Zellen im Gehirn zu wanken beginnt.
Dazu seien Methoden jenseits der Genetik und der Proteinbiologie erforderlich. „Alzheimer ist tatsächlich kein biochemisches oder molekulares Problem, sondern ein physiologisches Problem der gestörten Konnektivität zwischen Zellen“, schreiben die Neuroforscher in ihrem Text. „Die Krankheit kann deshalb nur im Kontext dieser komplexen zellulären Interaktionen verstanden werden, die das Gleichgewicht im Gehirn bewahren.“ Single-Cell-Techniken und Netzwerkanalysen seien die Zukunft.
Die Zulassung von Aduhelm könnte angesichts der heftigen Kritik deshalb wohl etwas ganz anderes zeitigen, als Big Pharma es sich erträumt hatte. Nicht den Beginn einer neuen therapeutischen Zeit, sondern das durchaus bittere Ende einer Forschungsära, auf das nun endlich ein guter Neuanfang folgen muss. Die Beseitigung von Beta-Amyloid wird in diesen umfänglichen Modellen sicher weiterhin eine Rolle spielen, aber nur ein Puzzleteil von vielen sein. Und wenn es gut läuft, gibt es in naher Zukunft dann eine Zulassung, die auch von den zu Rate gezogenen Experten empfohlen wird.
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