Forscher über die neue Rechte: „Die AfD ist in desolatem Zustand“
Nur Einzeltäter? Der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer über die rechte Bedrohung und neue Allianzen.
taz: Herr Heitmeyer, in diesen Tagen erscheint Ihr neues Buch „Rechte Bedrohungsallianzen“. Hat sich an Ihrer Analyse durch die Coronakrise etwas geändert?
Wilhelm Heitmeyer: Das Manuskript war zu Beginn der Coronakrise weitgehend fertig. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse einer Überprüfung durch die Veränderungen, die mit dieser Krise einhergehen, standhalten.
Und: Tun sie das?
Es geht darum, wie das rechte Spektrum in den letzten Jahren in die Offensive gekommen ist. Jetzt ist die Frage, was sich durch die Ablehnung der Coronamaßnahmen bei einem Teil der Bevölkerung verändert hat. Es gibt diese Demonstrationen, bei denen einzelne Personen aus unterschiedlichen Motiven mitlaufen, die aber kein Gruppenbewusstsein haben. Und eben auch Rechte mit ausgeprägtem Gruppenbewusstsein. Diese Mischung kann eine neue Wucht hervorbringen. Aber ob das geschieht, muss man abwarten.
75, Soziologe, war Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld von 1996 bis 2013. Heitmeyer entwickelte den Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ und untersuchte deren Entwicklung in der deutschen Bevölkerung in der Reihe „Deutsche Zustände“. Heute arbeitet Heitmeyer als Forschungsprofessor.
Das Buch: Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer: „Rechte Bedrohungsallianzen“. Suhrkamp, Berlin 2020, 325 Seiten, 18 Euro
In Ihrem Buch versuchen Sie, mit Hilfe des „konzentrischen Eskalationskontinuums“, wie Sie es nennen, die aktuelle Entwicklung der radikalen Rechten zu analysieren. Was verstehen Sie unter diesem Kontinuum?
Wir sind der Auffassung, dass es nicht mehr reicht, das rechte Spektrum parzelliert zu analysieren. Wir müssen soziologische Ursachen von Entwicklungslinien und politische Qualitätsveränderungen aufzeigen, um die Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie wirklich einschätzen zu können. Das konzentrische Eskalationskontinuum muss man sich wie eine Zwiebel vorstellen, von der äußeren Schale bis zum Kern. Ganz außen sind die Einstellungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung, also gegen Muslime, Juden, Obdachlose, Homosexuelle und so weiter. Im Kern sind terroristische Vernichtungsakteure.
Und dazwischen?
Zunächst, als zweite Schicht, die AfD, die wir als autoritären Nationalradikalismus bezeichnen, denn Rechtspopulismus ist eine Verharmlosung. Dann kommen das systemfeindliche Milieu von Rechtsextremisten und Neonazis mit Gewaltorientierung, die klandestinen rechtsterroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieus und im Kern eben die Vernichtungsakteure. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger.
Sehen Sie also eine klare Linie beispielsweise von der AfD bis zu terroristischen Anschlägen wie dem Angriff auf die Synagoge in Halle?
Juristisch natürlich nicht, aber die AfD spielt eine ganz entscheidende Rolle in diesem Prozess der Eskalation und den rechten Bedrohungsallianzen. Und man muss auch die antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung berücksichtigen und die antisemitischen Taten, die noch nicht zum Terrorismus gehören. Deshalb sprechen wir von Legitimationsbrücken. Das heißt: Die Einstellungen in der Bevölkerung liefern der AfD das Material, sie macht daraus politische Parolen wie „Umvolkung“, „Untergang“ oder „messerstechende Invasoren“. Dann arbeitet die AfD mit dem, was ich eine Gewaltmembran nenne …
Heißt, mit etwas, was trennt, aber gleichzeitig durchlässig ist?
Genau. Die verbale Ablehnung von Gewalt wird mit Opfer- und Notwehrmetaphern verbunden. Das ist wiederum die Legitimation für das systemfeindliche Milieu, das schon mit Gewalt hantiert. Und daraus folgen die nächsten Legitimationen für terroristische Taten. So wird das Eskalationskontinuum zusammengehalten.
Warum ist es so wichtig, das ganze Kontinuum in den Blick zu nehmen?
Weil man sonst an vielen Stellen gesellschaftliche Entlastungsstrategien unterstützt. Teile der Bevölkerung, die Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit haben, meinen ja, dass sie mit rechtsextremen Taten nichts zu tun haben. Aber diese gesellschaftliche Selbstentlastung ist nicht angemessen.
Heißt das, dass Sie Personen, die menschenfeindliche Einstellungen haben, auch Verantwortung für terroristische Taten zuschreiben?
Sie verändern das gesellschaftliche Klima und helfen dabei, bestimmte Gruppen zu markieren, die dann, unabhängig vom individuellen Verhalten, Opfer von Abwertung und Gewalt werden. Diese Teile der Bevölkerung, die bis in die rohe Bürgerlichkeit reichen, sind an diesem Markierungsprozess für die Gewalt beteiligt. Und sie kann deshalb nicht sagen: Das geht uns nichts an.
Macht es keinen Unterschied, wenn diese Menschen selbst Gewalt ablehnen?
Verantwortung haben sie trotzdem. Das eskaliert ja über zwei zentrale innere Zusammenhänge: Zum einen gibt es eine durchgehende Linie der Ideologie der Ungleichwertigkeit und dann geht es zum zweiten um das Verhältnis zur Gewalt. Man kann nicht einfach den Terrorismus aus der gesellschaftlichen Entwicklung aussondern. Er hängt mit dem gesellschaftlichen Klima und auch dem Agieren politischer und staatlicher Eliten zusammen.
Sie haben das Ganze an den Ereignissen in Chemnitz im Jahr 2018 durchdekliniert. Warum gerade dieses Beispiel?
Weil in Chemnitz besonders deutlich wurde, wie die Grenzen verschwimmen. Dort waren zum ersten Mal all diese Gruppen, die im Eskalationskontinuum eine Rolle spielen, gemeinsam auf der Straße. Also von den sogenannten „besorgten Bürgern“ über die AfD, die gewalttätigen Neonazis vom Chemnitzer FC bis zu Leuten von „Revolution Chemnitz“, einer terroristischen Planungsgruppe.
Auch Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, war in Chemnitz.
Genau. Und hier sieht man sehr genau, dass es nicht reicht, die einzelnen Teile zu analysieren. Die Übergangslinien und verschwindenden Grenzen sind entscheidend. Das macht die Bedrohungsallianzen aus.
Ein anderes Beispiel ist die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD und CDU zum Thüringer Ministerpräsidenten im Februar.
Das ist wichtig, weil es hier um das Eindringen in die Institutionen geht. Die AfD macht das ganz gezielt, wie man zum Beispiel bei der Polizei, den Gewerkschaften und anderen Verbänden sehen kann. Es geht um die Destabilisierung von Institutionen und dafür war die Wahl in Erfurt ein besonderes Beispiel. Ich hätte nie gedacht, dass diese Destabilisierungsstrategie so schnell die Systemebene erreicht.
Geht es also um eine Normalisierung des Rechtsextremismus?
Ja, und genau das bereitet mir große Sorgen. Denn alles, was als normal angesehen wird, kann man nicht mehr problematisieren. Deshalb ist auch die Formel „Wehret den Anfängen“ falsch. Darüber sind wir längst hinaus.
Das hört sich so an, als ob alles immer schlimmer wird. Zumindest der AfD aber geht es derzeit gar nicht so gut. Hat die Partei ihren Zenit überschritten?
Sie haben recht: Die AfD ist in einem desolaten Zustand. Aber was das bedeutet, ist schwer zu sagen, weil sie noch eine stabile Wählerschaft hat, vor allem im Osten. Selbst wenn die AfD zerfallen würde: Die Einstellungen sind ja weiter da. Und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass zerfallende Gruppen oder Parteien dazu führen, dass sich die Lage automatisch entspannt. Aus zerfallenden radikalen Gruppen entwickeln sich häufig noch extremere Kleingruppen. Auch der NSU ist ja aus der zerfallenden Bewegung des „Thüringer Heimatschutzes“ entstanden.
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