Forscher über Massenunterkunft: „Ein Leben im Provisorium“
Hamburg will 1.200 Flüchtlinge in einer Messehalle unterbringen. Was das mit ihnen und den Anwohnern macht, erklärt Migrationsforscher Oltmer.
taz: Herr Oltmer, wir wohnen in Wohnungen oder Häusern. Schon Containerunterkünfte sind für uns befremdlich. Was aber macht das mit einer Gesellschaft, wenn sie sich plötzlich mit 1.200 Menschen in einer Messehalle konfrontiert sieht?
Jochen Oltmer: Der Unterschied, den Sie markieren, zwischen unserem „normalen“ und dem „extremen“ Leben in Massenunterkünften, bewirkt viel beim Betrachter. Die Situation wird ohne Zweifel als absolute Ausnahme wahrgenommen. Als eine sehr prekäre Daseinsform und als etwas, das niemals auf Dauer existieren kann. Auch in Hamburg ist es von Anfang an als Provisorium ausgewiesen worden. Wir beobachten, dass solche Unterkünfte später aber oft doch zu einer Dauerlösung werden. Hier wird das wahrscheinlich nicht so sein.
Mehrt die Konfrontation Vorurteile oder steigt gar die Akzeptanz, weil das Leid so offensichtlich wird?
Die Tatsache, dass es solch eine Einrichtung gibt, führt noch nicht zu mehr Protest. Die Menschen haben bei so einer extremen Form der Unterbringung den Eindruck: „Das kann ja nur provisorisch sein.“ Dass die Situation in der Messe so prekär wird, führt meiner Meinung nach zu mehr Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Anders ist das bei dauerhaften Erstaufnahmestellen. Dort lässt die enorme Fluktuation die Einrichtung viel größer erscheinen, als sie ist. Man sieht, dass sehr viele Menschen kommen. Dass gleichzeitig viele gehen, wird weniger registriert.
Das Karolinenviertel ist ein kleines, szeniges Viertel. Was passiert, wenn da plötzlich 1.200 Menschen mehr leben?
Fast überall, wo es Flüchtlingslager gibt, hat es sehr breite Diskussionen gegeben. Es ist wichtig, so früh und intensiv wie möglich Kontakt mit der Bevölkerung aufzunehmen. Es gibt erstaunlicherweise immer noch die Tendenz in der Politik, solche Vorgänge zu verschweigen, um Proteste zu verhindern. Das ist Unsinn. Es hat sich gezeigt: Je intensiver die Aufklärung, desto größer die Akzeptanz.
Lager verbindet man in Deutschland schnell mit Konzentrationslagern. Seit langer Zeit gibt es jetzt wieder Massenlager.
Solche Wohnlager gab es tatsächlich lange nicht mehr. In der bundesdeutschen Geschichte hatten sie aber auch nach dem Krieg eine große Bedeutung. Bis in die siebziger Jahre lebten Vertriebene in Lagern. Menschen, die das durchlebt haben, fühlen sich sicher zurückerinnert an diese Zeit. An ihr Leben im Provisorium, an ihr Leben in der Wartestellung. Solche Orte sind gekennzeichnet vom Warten und Hoffen.
Ist es das, worauf sich die Ankommenden einstellen müssen?
Auch, ja. Den Menschen dort bleibt oft nicht anderes als zu warten. Ein anderes Element ist bei der Größe sicher die Anonymität. Zudem wird zwar sicher alles getan, um die Versorgung zu gewährleisten, die Hygienestandards zu halten, wird jedoch sehr schwierig.
Konflikte sind unter solchen Bedingungen doch unvermeidlich.
Ja. Wir haben bei den bisherigen Einzelfällen gesehen, dass es vor allem Überbelegung ist, die zu Streit führt. In den Medien spielen oft ethnische Konflikte eine Rolle, die bei genauerer Betrachtung aber wenig bedeutend sind. Es geht vielmehr um unsichere Verhältnisse. Niemand weiß, wo er in einer Woche ist. Wird man umverteilt oder abgeschoben? Es ist unklar, wie lang man in der Konstellation noch ausharren muss. In diesem Umfeld wachsen Aggressionen. Es sind dann meist spontane Ausbrüche, die zu Gerangel führen. Berichte zu Bandenbildungen sind größtenteils Spekulation. Dazu gibt es bisher kaum Forschung. Wo soll die auch herkommen, von jetzt auf gleich?
Im ZDF-“heute journal“ sagte am Mittwoch ein syrischer Flüchtling: „Die Albaner nehmen uns die Plätze weg.“ Müssen Menschen vom Balkan jetzt sogar unter Flüchtlingen als Sündenböcke herhalten?
Da taucht auch in der Unterkunft schnell ein Freund-Feind-Schema auf. Das ist ein Argument, das vorgetragen wird, um die eigene Situation zu stärken. Die Frage nach echten und falschen Flüchtlingen ist eine ganz eigene Debatte. Wir wissen genau, dass auch die Menschen, die aus Südosteuropa kommen, mit erheblichen Konflikten und Bedrängnissen zu tun haben. Wir wissen, wie katastrophal die Situation der Roma in vielen Staaten und wie vergiftet das Klima in vielen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist. Nicht umsonst sind im Kosovo noch deutsche Soldaten stationiert. Hier gilt: Jeder der einen Asylantrag stellt, hat auch Anspruch auf ein reguläres Asylverfahren.
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