Forschender Aktivist über Klimaproteste: „Eines der effektivsten Mittel“
Als Teil der Scientist Rebellion besetzte Matthias Schmelzer mit anderen das Finanzministerium. Er erklärt die Motive der Klimagruppe.
taz: Herr Schmelzer, Sie waren vergangene Woche mit der Gruppe Scientist Rebellion in Berlin in Aktion. Wer steckt hinter der Gruppe?
Matthias Schmelzer: Die Scientist Rebellion ist eine Klimaaktionsgruppe von Wissenschaftler:innen aus etwa 32 Ländern. Wir kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, einige von uns sind auch Autor:innen des Weltklimarates IPCC. Wir sind überzeugt davon, dass gewaltfreie direkte Aktionen das effektivste Mittel sind, mit dem wir als Wissenschaftler:innen die Dramatik und die Dringlichkeit der Klimakatastrophe kommunizieren können.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.
Eine zentrale Forderung der Scientists ist, dass die Bundesregierung anerkennt, dass sie mit ihrer Politik das klimapolitische 1,5-Grad Ziel überschreitet. Wofür braucht es dieses Eingeständnis?
Zwar hält die Bundesregierung weiterhin am Klimaziel fest, es ist allerdings nicht wissenschaftlich darstellbar, wie die aktuellen Politiken tatsächlich zu einem global gerechten Klimabudget für 1,5 Grad passen. Die Fiktion, immer noch auf dem Zielpfad zu sein, steht der Umsetzung drastischer und dringend notwendiger Maßnahmen im Weg. Laut IPCC gibt es eine mittlere Wahrscheinlichkeit, dass wir unter der Klimagrenze bleiben, wenn wir einen sehr radikalen Systemwandel in den reichen Ländern hinbekommen. Stattdessen baut Deutschland gerade fossile Gasinfrastruktur auf Jahrzehnte hin aus.
Zusammen mit den Gruppierungen DebtforClimate und Letzte Generation forderte Scientist Rebellion dazu auf, den Transportsektor zu dekarbonisieren und die Schulden für Länder des Globalen Südens zu erlassen. Wie hängen diese beiden Forderungen miteinander zusammen?
Alle drei sind leicht umsetzbare Maßnahmen, die angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise mehr als notwendig sind. Zusammen sollen sie deutlich machen, dass es darum geht, die Krise anzuerkennen und auf nationaler Ebene konkret anzusetzen. Gleichzeitig braucht es international globale Klimagerechtigkeit. Wir verlangen, dass Deutschland als viertgrößtes Stimmmitglied im Internationalen Währungsfonds Verantwortung dafür übernimmt, dass die Schulden des Globalen Südens gestrichen werden. Diese sind zum einen politisch illegitim, zum anderen erzwingen sie aber auch Armut und Abhängigkeit von fossilen Ressourcen. Denn um Schulden zurückzuzahlen, müssen Länder internationale Devisen erlangen, und das tun sie meistens durch den Handel mit fossiler Energie und anderen Bodenschätzen.
Bund und Länder einigten sich jüngst vorläufig auf die Einführung eines 49-Euro-Tickets. Die Scientist Rebellion haben als Reaktion darauf vergangenen Dienstag kurzzeitig das Bundesverkehrsministerium blockiert. Zudem besetzten sie mit anderen Klimagruppen das Finanzministerium und forderten eine „Aufhebung der Schulden für den Globalen Süden“. Nach der Aktion twitterte Finanzminister Christian Lindner, er habe die Aktion als Erinnerung nicht gebraucht. Wie bewerten Sie den Erfolg der Aktionen?
Das 49-Euro Ticket ist zu teuer, um tatsächlich allen Zugang zu nachhaltiger Mobilität zu ermöglichen. Zudem setzt es keinen starken Anreiz, wirklich vom Auto auf die Öffentlichen umzusteigen. Und Lindners ‚Schuldenerleichterungen‘ sind im Endeffekt nur ein Mittel, die dauerhafte Zahlungsfähigkeit der Schuldnerländer zu sichern. Sie bedeuten kein Ende der durch Schulden erzwungenen Ausbeutung. Unsere Aktionen haben unsere Kritiken und Forderungen medienwirksam kommuniziert.
Als die Scientist Rebellion am Sonntag beim Weltgesundheitsgipfel in Berlin den Feueralarm auslöste, reagierte Scholz diskreditierend: „Sie machen Proteste zu Klima und solchen Sachen (…) Ich denke, der beste Weg, die Diskussionen zu verbessern, ist, nicht hinzuhören und weiterzumachen.“ Wie muss Scholz’ Umgang mit der Aktion verstanden werden?
Man muss sich das vor Augen führen: Dem ‚Klimakanzler‘ fällt zu dem total legitimen Protest von Wissenschaftler:innen nur ein, sie zu ignorieren. Ich finde das zutiefst erschütternd. Es ist symptomatisch für die Reaktion der meisten Regierungen weltweit auf die sich immer weiter zuspitzende Klimakrise und die immer radikaler werdenden Proteste: nicht hinhören und weitermachen.
Als Sozial- und Wirtschaftshistoriker forschen und lehren Sie an der Universität Jena. Welche Erkenntnisse Ihrer Forschung haben Sie dazu bewegt, Teil der Scientist Rebellion zu sein?
Ich arbeite seit Jahren interdisziplinär mit Klimawissenschaftler:innen zu der Frage, wie die aktuelle Klimapolitik an den selbst erklärten Zielen scheitert und inwiefern das mit ökonomischen Wachstumszwängen zu tun hat. Dabei setzte ich mich mit Degrowth und Postwachstumsansätzen auseinander. Das ist übrigens eine zentrale Forderung der Scientist Rebellion.
Was ist Degrowth und wie geht das Konzept auf die Klimakrise ein?
Degrowth steht für eine geplante Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs. Das Ziel ist es, die Wirtschaft schnell genug zu dekarbonisieren – und dabei durch strukturelle Veränderungen das Wohlergehen von allen zu verbessern. Mit grünem Wachstum, auf das die Regierung setzt, lösen wir keines der beiden Probleme. Natürlich müssen wir wirtschaftliche Aktivität von Emissionen, so gut es geht, entkoppeln. Bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum ist der Versuch dieser Entkopplung aber so sinnvoll, wie auf einer ständig nach oben fahrenden Rolltreppe hinabzusteigen. Degrowth bricht mit diesem Wachstumszwang.
Bis zum 4. November sollen weitere Aktionen stattfinden. Ermutigen Sie andere Wissenschaftler:innen, an den Protesten teilzunehmen?
Definitiv. Ich ermutige andere Wissenschaftler:innen dazu, sich mit diesen Protesten auseinanderzusetzen, sich zu beteiligen oder neue Formen der Intervention in der politischen Debatte zu erproben. Ich bin überzeugt davon, dass ziviler Ungehorsam tatsächlich eines der effektivsten und passendsten Mittel ist, um die Dringlichkeit der Klimakrise sichtbar zu machen – Wissenschaftler:innen können dabei eine wichtige Rolle spielen.
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