Folgen eines Suizid-Versuchs: In zu kleinen Schuhen stecken
Viktor Staudt springt vor den Zug. Er springt zu früh, stolpert, fällt, die Beine auf dem Gleis. Heute sitzt er im Rollstuhl und übt das Überleben.
Viktor Staudt schwimmt. Kraftvoll teilt er das Wasser, krault sich durchs 25-Meter-Becken im Schwimmbad von Pianoro, einer Kleinstadt bei Bologna, schiebt den linken Arm vor, den rechten, rhythmisch, gleichmäßig, eine Bahn, noch eine Bahn, fünfzig Bahnen, mehr. Schwimmend spürt er seinen Körper vollkommen, schwimmend fühlt er sich ganz. Nur dieses Gefühl, dass seine Füße in zu engen Schuhen stecken, lässt ihn auch im Wasser nicht los. „Schuhe, zwei Nummern zu klein.“
Staudt ist laut. „Ciao“ ruft er jedem zu, als stünde er nicht vor ihm, sondern auf der anderen Seite der Straße. An der Kasse des Schwimmbads: „Ciao carissima“ – Liebste. Und ist er drin, in der Halle, auf der Terrasse, an der Bar: „Ciao Luca“, „Ciao Francesco“, „Ciao Riccardo“ – die Schwimmmeister, tätowierte Kerle. Sie grüßen zurück, öffnen ihm die Absperrgitter, damit er durchkommt mit dem Rollstuhl, stellen ihm die Liege auf.
Jeden Tag geht Staudt schwimmen. Jeden Tag fährt er mit dem Rollstuhl ans Becken vor die Startrampe, dort, wo die Bahn reserviert ist für Langsamschwimmer – „corsia per andatura lenta“ – obwohl er doch schnell schwimmen kann. Er schwingt seinen Körper aus dem Rollstuhl auf die Rampe, klettert leicht und mit einer tanzenden Drehung zum Beckenrand, von da rollt er ins Wasser. Staudt hat keine Beine. Über den Knien abrasiert von einem Zug.
„Ich habe mich umgebracht und lebe“, sagt er. „Ein Pyrrhussieg.“
Intelligent sein heißt lernen zu können. Das können auch Maschinen. Sie erkennen Emotionen in menschlichen Gesichtern und lernen zu sprechen. Muss uns das Angst machen? Lesen Sie ein Dossier über neuronale Netze und künstliche Intelligenz in der taz.am wochenende vom 12./13. September. Außerdem: Ludwig Minelli leistet in der Schweiz Sterbehilfe. Er findet, der Suizid sollte kein Tabu mehr sein. Im Interview spricht er über seine Arbeit, die vielen Suizide, die misslingen und die Kosten, die daraus folgen. Und: eine Reportage aus dem österreichischen Großraming, einem Dorf, das seine Angst vor Flüchtlingen verloren hat. Und das, obwohl die manchmal ohne Warnweste Fahrrad fahren. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Dass er sich vor den Zug werfen könnte, wenn die Angst- und Panikattacken nicht mehr aufhören, das wusste er lange. Er kannte die Stelle: den Bahnsteig Amsterdam-Rai, vorne zwei Bänke. Auf einer saß er. Am Bahnhof stieg er ein, wenn er zur Arbeit ging – angestellt bei einer Fluggesellschaft. Er kannte den Schnellzug, der dort durchfuhr, von Amersfoort zum Flughafen Schiphol. Er kannte die Uhrzeit. „Ich habe mir über andere Todesarten keine Gedanken gemacht.“
Die Einsamkeit der letzten Stunden
Am 12. November 1999 springt er. Er springt zu früh, stolpert, fällt, bricht sich den Arm, der Zug rast über ihn, die Beine auf dem Gleis. Ein Schmerz. So tief. Unauslöschbar. Er weiß, dass er noch lebt. Dann weiß er es nicht mehr. Er ist 30 Jahre alt.
Der 12. November 1999 in Amsterdam. Es ist windig, bewölkt, kühl. Morgens war er im Fitnessstudio. Sport soll bei Depression helfen. Später, daran erinnert er sich, füllte er eine Banküberweisung aus, zahlte ein Darlehen zurück. Er sagt, „wenn ich es jetzt erzähle, ist es, als hätte ich es in einem Film gesehen.“ Alles Fiktion. Und er sagt: „Wenn es so weit ist, gibt es nichts anderes mehr.“ Es fühle sich an wie Lampenfieber, kurz bevor sich der schwere Vorhang hebt. „Erst wenn man losgelassen hat, kann man das machen.“ An den Lokführer habe er nie gedacht. „Es klingt krank, aber es ist krank.“
Er erinnert sich, wie er die Tür zu seiner Wohnung in der Hemonystraat 23 hinter sich zuzieht, grün mit rundem Knauf, wie er das Fahrrad nimmt, durch die Stadt fährt zum Bahnhof. „Ich habe den Wind im Rücken gespürt.“ Unterwegs kauft er eine Flasche Wodka, trinkt einen Schluck. Aber wenn er sich an etwas vor allem erinnert, ist es die Kälte, die Einsamkeit. „Die absolute Einsamkeit der letzten Stunden und Tage, und das ist so kalt, da gibt es keine Wörter, keine Musik.“
Ob er bedauert, dass er nicht tot ist?
„Ja.“
Nur draußen war es farbig
Im Schwimmbad schreien Kinder, flirten Mädchen in pinkfarbenen, neongrünen Bikinis mit Jungs, deren Lässigkeit sie weich sein lässt in den Knien. Wenn Kinder ihm im Weg stehen, wird er unruhig. „Bitte“, sagt er hart und laut. Die zucken zurück, schauen ihm ins glatte Gesicht, auf den geschorenen Kopf, starren auf seine Beine und wieder in sein Gesicht. Sie gehen zur Seite. Eigentlich mag er ihre neugierigen Blicke. Manche fragen: „Wo sind deine Beine?“
Staudt sitzt an der Bar unter Sonnenschirmen. Davide kommt vorbei, auch er im Rollstuhl. „Ciao Davide.“ Mit ihm spricht er leiser. Worüber? Va bene, si, dass das Wetter toll ist, dass er Besuch hat. Später sagt er: „In Italien ist der Umgang mit Behinderten besser.“ Besser als in Deutschland, wo er zehn Jahre in der Nähe von Heidelberg lebte. Besser als in Holland, wo er geboren ist. Sein Vater mit deutschem Vater. Seine Mutter mit jüdischem Vater. Sein Großvater hat Theresienstadt überlebt und nie darüber gesprochen. Aber das erklärt nichts. Es erklärt nicht, warum Viktor Staudt, als er in die Schule kam, begann, alles in Schwarz-Weiß zu sehen. Nur draußen war es farbig. Drin schwarz-weiß, draußen farbig, das war Realität. Er müsse, meinte er, nur mit der Schule fertig sein, dann werde es wieder bunt. Einmal soll die Lehrerin seine Mutter bei einem Elternabend gefragt haben, ob Viktor auch lachen könne.
Als er Abitur hat und die Welt hätte farbig werden sollen, beginnt er zu stottern. Er meint: richtig stottern, kein Wort mehr herausbringen. „Das Stottern“, sagt er, „hat nie mehr aufgehört“, obwohl es jetzt nicht mehr zu hören ist, wenn er spricht. Er stottere innerlich. Danach kamen die Angst-, die Panikattacken, die Schweißausbrüche, das Gehetztsein. „Viktor schmilzt“, soll ein Freund einmal gesagt haben, als er neben ihm im Auto saß. Natürlich, er sucht Hilfe, geht zum Arzt, „Es wird schon“, das sei so ein Satz. Ja, es wird schlimmer.
Als Sie aufwachten im Krankenhaus, gab es da Gegenwart?
„Nein.“
Altes Leben, neues Leben
Er wacht auf, und es ist der 13. November. Die Eltern stehen am Bett. Sie weinen. Vor Freude und Schmerz. Froh, dass sie ihn haben, traurig, wie. Jemand sagt ihm, dass er keine Beine mehr hat. Das wird die Zäsur, an der sich Vergangenheit und Gegenwart scheiden. Er kommt aus der Vergangenheit, er rechnet zurück: Vor 72 Stunden konnte ich noch gehen, vor einer Woche, vor drei Monaten. Oft träumte er, er jogge durch den Vondelpark. Das Aufwachen? „Schrecklich“, weil er nicht weiß, was Wirklichkeit ist. War das mit Beinen der Traum oder das ohne? Er wagt es nicht, die Decke zu heben. Er spürt seine Beine ja. Nur dass sie in zu kleinen Schuhen stecken. Es ist der Phantomschmerz. Man gibt ihm Tilidin – ein synthetisches Opiat. Es macht ihn taub. Später setzt er es ab von einem zum nächsten Tag, lebt nun mit dem Schmerz und denkt über noch sicherere Todesarten nach.
Irgendwann habe es doch Gegenwart gegeben. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, dachte er, er ginge zurück in die Welt, die er am 12. November verlassen hat. Musik aus „Sunset Boulevard“ kommt ihm in den Kopf. „Ich kenne mich aus, ich bin wieder da, as if we never said goodbye.“ Er singt das Lied jetzt im Schwimmbad. Amsterdam, die Geräusche, die Gerüche – ihm so vertraut. Aber dann macht es ihn unsicher, dass er auf ein altes Leben zugeht, das seins ist und doch nicht. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, kam ihm, erzählt er, nun schöner vor, als es je war. Oh, das Haus, steht es nicht symbolisch fürs Ich? Ist der Viktor ohne Beine der schönere Viktor? Er verneint. „Ich habe mich in meiner alten Wohnung wohlgefühlt, aber ich bin trotzdem dort gestorben.“
Nach dem Krankenhaus ist alles neu, das Apartment, das Auto, er lernt neu sich zu bewegen, sich zu orientieren, zu gehen. Er geht auf Prothesen, aber da die Knie fehlen, braucht er Krücken dazu. Drei Jahre kämpft er damit, bevor er es lässt und den Rollstuhl nimmt. Da häutet sich die Vergangenheit und er kommt der Gegenwart näher. In der Zeit hört er auch auf zu sagen, er hätte einen Motorradunfall gehabt.
Die gleichen Fragen
Und nun also Pianoro, das Schwimmbad, die Kumpelhaftigkeit der Bademeister, das Hallo. Wenn er mit jemandem spricht, hievt er sich vom Rollstuhl auf den Stuhl am Tisch. Vom Oberkörper her ist er dann ein Gleicher. Einer mit lautem Optimismus, der mit seiner Stimme umarmt und Antidepressiva nimmt. Als er die einmal absetzte, kamen die Angstattacken zurück.
Am Schrank in seiner Wohnung lehnt eine gerahmtes Graffito: „Het spijt me. Lees dit op een mooie dag, Viktor“ – „Es tut mir leid. Lesen Sie dies eines schönen Tages“, steht darauf. Noch in der Halbwirklichkeit nach dem Sprung schrieb er es für den Polizisten, der ihn im Krankenhaus besuchte. Der ließ es rahmen und gab es ihm zurück. Nun steht es in Staudts Wohnung gegenüber dem Sofa mit den vielen Plüschtieren. Er kann sich nicht entscheiden, es aufzuhängen.
Auf der Buchmesse in Bologna, wo er einen Kinderbuchverlag vertrat, kam ihm die Idee, in Italien zu leben. Er fand Pianoro, fand Freunde und Zeit zum Schreiben. „Die Geschichte meines Selbstmords“ heißt das Buch. Mit dem ist er viel unterwegs – „nicht als Missionar der Lebensbejahung“. Als was dann? Er will antworten, kommt nicht dazu, denn über die Schwimmbadlautsprecher singt Marco Mengoni, der schwul sein soll wie er, seinen Hit „Essere umani“ – menschliche Wesen. „Ich liebe dieses Lied“, sagt Staudt. Er singt mit, wiegt seinen Oberkörper im Takt. „Erst wenn du weinst, weißt du, wer du bist“, übersetzt er.
Auf Lesereisen werden ihm, erzählt er, oft die gleichen Fragen gestellt:
Wie das Leben in zehn Jahren aussieht?
Und, was antworten Sie? „Ich denke darüber nicht nach.“
Ob glauben hilft?
„Manchen schon.“
Ob er eine Freundin habe?
„Ich kann keinem zumuten, mit mir zusammenzuleben.“
Der Frage aber, die immer kommt: Sind Sie jetzt glücklich?, weicht er sicher aus.
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