Folgen der Krise in Venezuela: Hart an der Grenze
Im kolumbianischen Grenzort Cúcuta sind zehntausende Venezolaner täglich auf der Suche nach Nahrung und Arbeit. Das sorgt für Spannungen.
Die 20-jährige Venezolanerin sitzt auf einem Plastikstuhl neben dem Krankenhausbett und stillt den kleinen Jesús. Ventilator und Fernseher lärmen um die Wette, ein Thermometer zeigt 80 Prozent Luftfeuchtigkeit an. Vor vier Wochen ist Vera die zehn Kilometer von San Antonio del Táchira in die kolumbianische Grenzstadt Cúcuta gereist, eine Provinzhauptstadt im Norden des Landes. Seither verpflegt sie dort das Universitätsklinikum Erasmo Meoz, das größte Krankenhaus der Region. Jeder fünfte Patient in der Notaufnahme ist Venezolaner. Und das bringt Juan Agustín Ramírez Montoya in Bedrängnis.
Der Geschäftsführer des „Erasmo“ betrachtet es als seine Pflicht, zu helfen. Allein weil bis vor Kurzem die Rollen vertauscht und Venezuela den Kolumbianern Zuflucht vor Farc-Rebellen und Paramilitärs geboten hat. Gleichzeitig räumt er ein: „Wir stehen vor dem Kollaps.“ Schon jetzt sei das Krankenhaus zu 30 Prozent überbelegt.
Und die Zahl venezolanischer Patienten steige an. 2016 waren es mit 2.298 mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Und in den ersten drei Monaten 2017 wurden schon fast tausend Venezolaner behandelt. Auf den Kosten dafür bleibt das Krankenhaus möglicherweise sitzen. „Der Gesundheitsminister hat mir zwar am Telefon die Übernahme der bisherigen Ausgaben zugesagt“, sagt der 59-Jährige. „Wie es danach weitergeht, ist offen.“
Sterberate bei Säuglingen stieg sprunghaft an
In der sechstgrößten kolumbianischen Stadt ist die Unsicherheit groß, wie sich die Krise jenseits der Grenze auf sie auswirkt. Seitdem dort Nicolás Maduro 2013 dem verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez im Amt nachfolgte, befindet sich Venezuela wirtschaftlich und politisch im freien Fall. Die kollabierenden Ölpreise haben dem Regime die Haupteinnahmequelle genommen, die Devisenreserven sind auf ein Rekordminimum geschrumpft. Vielerorts ist die Versorgungslage dramatisch. Erst vergangene Woche räumte das Gesundheitsministerium ein, dass die Sterberate bei Säuglingen 2016 sprunghaft angestiegen sei. Der Abbau von Bürger- und Freiheitsrechten, der seit Anfang April zu heftigen Protesten mit bislang 43 Toten geführt hat (siehe Kasten), sorgt für zusätzlichen Unmut.
Not: Medikamente, Hygieneartikel und Lebensmittel sind rar, die Inflationsrate liegt bei 800 Prozent, Devisen sind knapp. Nach Angaben des venezolanischen Gesundheitsministeriums ist die Säuglingssterblichkeit 2016 um 30 Prozent auf knapp 11.500 gestiegen. Die Zahl der Mütter, die bei der Geburt starben, sei um zwei Drittel angewachsen. Auch Fälle von Malaria, die vor Kurzem als ausgerottet galt, haben um 76 Prozent zugenommen.
***
Unterdrückung: Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat den Ausnahmezustand verlängert und verschärft. Die Zahl der Toten bei der seit Anfang April andauernden Protestwelle ist inzwischen auf 43 gestiegen.
***
Widerstand: In mehreren Städten kam es auch am Dienstag zu Demonstrationen und teils heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Für Mittwoch rief das Oppositionsbündnis MUD zu weiteren Demonstrationen gegen die sozialistische Regierung auf.
„Es ist sehr traurig, was in meinem Land passiert“, sagt die junge Mutter Jelitza Vera. „Meiner Regierung ist es vollkommen egal, dass ein viermonatiges Kind an einer Hirnhautentzündung stirbt.“ Der Frust ist in Cúcuta an jeder Ecke zu spüren. Viele kommen hierher, um Lebensmittel oder Medikamente zu kaufen. In den Wechselstuben im Zentrum türmen sich die Bolívares, die so schnell ihren Wert verlieren wie keine andere Währung in der Welt. Die Inflation liegt bei 800 Prozent.
„Wir sind mit einem ganzen Bündel gekommen und bekommen dafür drei Scheine“, klagt eine Frau, die im Schatten eines Gummibaums Zuflucht vor der Mittagshitze sucht. Acht Stunden Anreise hat sie mit ihren drei Töchtern hinter sich, um in Kolumbien Windeln zu kaufen. Vier Sporttaschen und zwei Koffer stehen prall gefüllt vor ihnen. „Das reicht für drei Monate“, sagt sie. „Wenn das Kind nicht krank wird und Durchfall bekommt.“
Jeden Tag reisen nach Angaben der kolumbianischen Migrationsbehörde mindestens 55.000 VenezolanerInnen ins Land ein. Viele Menschen hier haben beide Staatsbürgerschaften, leben und arbeiten mal auf der kolumbianischen, mal auf der venezolanischen Seite. Doch seitdem es mit Venezuela bergab geht, sind nicht nur viele Exilkolumbianer zurückgekehrt – auch immer mehr VenezolanerInnen suchen nun in Cúcuta Arbeit. Sie wischen Windschutzscheiben, verkaufen Fruchtsäfte und sogar die eigenen Haare.
Fünf Euro am Tag sind großes Glück
Nicht alle haben das Glück, einen richtigen Job zu finden wie Jenny Gómez. Die 32-Jährige verkauft Jeans in der wuseligen Avenida 6 im Herzen Cúcutas. Hier reiht sich Laden an Laden. Selbst auf den schmalen Bürgersteigen sind noch Kleidung, Sonnenbrillen, Elektroartikel ausgelegt. Gómez wohnte bis Januar in einem wohlhabenden Stadtteil von Valencia, der drittgrößten Stadt Venezuelas und rund 600 Kilometer von der Grenze entfernt. „In Venezuela gibt es keine Arbeit, keine Perspektive“, sagt Gómez wütend. „Ich sehe, wie sich hier in Kolumbien 14-jährige Mädchen prostituieren. So weit ist es mit uns gekommen.“ Dann fragt sie, ob man nicht eine Hose anprobieren möchte.
Jenny Gómez hatte doppelt Glück. Sie hat nicht nur einen Job gefunden – die Ladenbesitzerin zahlt ihr auch noch so viel wie den kolumbianischen Verkäuferinnen. 17.000 Pesos, etwas mehr als 5 Euro, bekommt sie am Tag. Oft zahlen die Händler in Cúcuta den venezolanischen Angestellten nur die Hälfte. Anuska Nimask etwa bekam für ihren letzten Job nur 10.000 Pesos pro Tag. Für Mittagessen und Bus ging schon über die Hälfte drauf. Sie hat gekündigt. Nach einem Jahr in Kolumbien klingt die 29-jährige niedergeschlagen. „Ich mache hier alles: Ich jobbe in Discos und Apotheken, passe auf Kinder auf, putze. Als Venezolanerin muss ich dafür noch dankbar sein.“
Fragt man in den Läden nach der ungleichen Bezahlung, winken viele Inhaber ab. Wir helfen ihnen doch, sagt einer. Eine aufrichtige Antwort erhält man im Rathaus. „Wer Ausländer ohne Arbeitsvisum anstellt, macht sich in Kolumbien strafbar“, sagt César Rojas. „Unter diesem Vorwand nutzen die Händler die Situation der bedürftigen Venezolaner aus.“
Der Bürgermeister empfängt in einem Saal mit Marmorboden. An der Wand hängt ein Gemälde von Francisco de Paula Santander, eines Weggefährten von Simon Bolívar – jenem Freiheitshelden, auf den sich die venezolanische Regierung bei ihrer sozialistischen Revolution beruft. Vom Büro aus kann Rojas auf den hübschen Parque Santander hinunterblicken. Dort, wo Nacht für Nacht die Kinder der venezolanischen Revolution im Freien schlafen.
Es gibt dutzende illegale Routen
„Seitdem Nicolás Maduro in Venezuela Präsident ist, ist bei uns die Arbeitslosigkeit gestiegen“, sagt Rojas. Vor ein paar Jahren noch hätten viele Firmen aus Cúcuta in Venezuela investiert oder Handel getrieben. Doch diese Einnahmen seien genauso eingebrochen wie die aus dem Tourismus: Heute reisen kaum mehr Kolumbianer zu den Nationalparks El Tamá oder Chorro El Indio in Venezuela, die auf dem Weg dorthin früher Geld in der Grenzstadt gelassen hatten. „Cúcuta ist die Stadt mit der höchsten Arbeitslosen- und Schwarzarbeitsrate in ganz Kolumbien“, sagt César Rojas. „Wir können nicht noch mehr Venezolaner aufnehmen“.
Um die Einreise besser überwachen zu können, müssen VenezolanerInnen seit Monatsbeginn den carnet fronterizo vorzeigen. Ein Dokument, bei dem sie auch den Grund ihrer Einreise angeben müssen. Bis zum Stichtag wurde der Ausweis mehr als 90.000-mal beantragt. Wer ihn nicht vorzeigt, wird abgewiesen. Zumindest offiziell. „Es ist unmöglich, die Grenze zu bewachen“, räumt der Beamte Mauricio Jímenez ein. „Es gibt dutzende illegale Routen.“ Auf ihnen wird vor allem billiges venezolanisches Benzin nach Cúcuta geschmuggelt.
Am Grenzübergang „Puente Internacional Simón Bolívar“, für den Jímenez zuständig ist, ist gerade die Sonne aufgegangen. Auf der Mitte der langen Betonbrücke über den Río Táchira stehen hunderte VenezolanerInnen Schlange vor dem kolumbianischen Kontrollposten; die Tagelöhner ohne Gepäck, die Einkäufer mit leeren Taschen, die Exilanten mit Koffern.
Doch nicht alle wollen in Kolumbien bleiben. Eine Gruppe gut gekleideter Studenten will weiter nach Chile. Sieben Tage brauchen sie dorthin, durchqueren Kolumbien, Ecuador und Peru, mehr als sechstausend Kilometer. Die Busfahrt wird an der Grenze für 330 US-Dollar angeboten. „Wir halten es nicht mehr aus“, sagt eine der jungen Frauen. „Keine Jobs und nun auch noch die Gewalt. Wir kommen erst zurück, wenn unser Land ein anderes ist.“
Streitkräfte an der Grenze werden verstärkt
In Kolumbien scheint man sich derzeit auf ein anderes Szenario einzustellen. Vor zwei Wochen kündigte der stellvertretende Verteidigungsminister im Parlament an, die Streitkräfte an der Grenze massiv zu verstärken. Man sei bereit – für den Fall einer humanitären Krise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin