Folgen der Aushöhlung des Asylrechts: „Wann holst du uns hier raus?“

2015 bekamen fast alle geflüchteten Syrer Asyl. Jetzt erhalten sie oft nur „subsidiären Schutz“. Es geht um zerrissene Familien.

ein Mann von vorn

Von Schuldgefühlen geplagt: Mostafa Abo Nokta in Bottrop Foto: Raphael Knipping

BOTTROP/ZAATARI taz | Mostafa Abo Nokta ist fett geworden in Deutschland. In der Pfanne vor ihm fünf Spiegeleier, daneben Pommes, Weißbrot, ein Schälchen Humus. Essen, das für eine ganze Familie reichen würde. Und er, der 35-jährige Syrer, sitzt da allein und wartet. Aber da kommt niemand. Niemand, der sich zu ihm setzt an den gedeckten Plastiktisch in seiner Wohnung in Bottrop. Nur Mostafa, das Essen, sein Telefon.

Mostafa zuckt zusammen, wenn der WhatsApp-Rufton im Handy pfeift. Wenn das grüne Symbol erscheint: Neue Nachricht von Amani. Amani, das ist Abo Noktas Frau, die Mutter seiner Kinder; inzwischen sind es vier. Sie und die Kinder sitzen fest in Zaatari, in Jordanien, dem mit 80.000 Einwohnern größten Flüchtlingscamp im Nahen Osten. 3.500 Kilometer entfernt von Bottrop, von Mostafa Abo Nokta. Seine Frau schreibt Mitteilungen wie: „Die Kinder vermissen dich sehr, wie geht es dir?“ oder „Wie lange sollen wir noch warten, wann holst du uns hier raus? Wann endlich?“

Mostafa Abo Nokta legt dann das Handy beiseite und spachtelt noch schneller in sich hinein. Was soll er auch antworten? „Ich hatte Hunger und hab mir ein paar Eier gebraten? Von 9 bis 13 Uhr saß ich im Deutschkurs. Und wie ich euch da rausholen kann, davon hab'ich echt keinen Plan.“ Soll er das vielleicht schreiben?

„Ich bereue es, dass ich meine Familie verlassen habe. Ich fühle mich schuldig“, sagt Mostafa. Dreizehn Monate ist es her, seit er auf den Pick-up gesprungen ist, der ihn zum jordanischen Flughafen gebracht hat. „Wir sehen uns bald!“, hatte er seinem Sohn noch zugerufen. Bald. Ein Monat, vielleicht zwei hatte er sich gedacht. Dass seine Tochter in Deutschland zur Welt kommen würde und nicht in einem staubigen Feldspital, da war er sich sicher. Inzwischen ist Sara acht Monate alt und hat ihren Vater noch nie gesehen.

Die Kehrtwende

In Deutschland hatte Mostafa Abo Nokta sich das so vorgestellt: Asylantrag, Asylbescheid, dann die Familie nachholen. Das war damals keine Illusion, das war die Realität. In fast hundert Prozent der Fälle wurde Syrern der volle Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen, Familiennachzug inklusive. Das Bamf, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, hatte bei Syrern die individuelle Prüfung aus- und stattdessen ein beschleunigtes Schriftverfahren eingesetzt. Begründung: Syrien-Rückkehrer müssen mit individueller Verfolgung durch das Assad-Regime rechnen. Das war 2015.

Als Abo Nokta seinen ganz persönlichen Brief vom Bamf bekommt, muss er sich übergeben. Wortwörtlich. Es ist der 28. Juni 2016, darin steht: „Der subsidiäre Schutzstatus wird zuerkannt. Im Übrigen wird der Asylantrag abgelehnt.“

Konkret heißt das: Du darfst bleiben, Mostafa. Deine Familie bleibt, wo sie ist. „Dabei bin ich doch für meine Kinder geflohen“, sagt Mostafa.

„Ich war zu spät dran“, konstatiert er heute. Sein Cousin Hamza, der mit ihm Zaatari am selben Tag verließ, mit ihm am selben Tag in Bottrop eintraf, hatte sein Asylinterview bereits im Februar – und bekam Asyl. Hamza fährt heute mit seinen Kindern im Bottroper Movie Park Achterbahn, während Mostafa Abo Nokta frustriert Essen in sich hineinschaufelt.

Von 98,5 auf 30 Prozent gesunken

Was ist dazwischengekommen? Zweierlei: Anfang 2016 führte Deutschland die individuelle Prüfung für Syrer wieder ein, auch das persönliche Interview. Außerdem verabschiedete die Bundesregierung im Februar das Asylpaket II. Darin ist festgeschrieben, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte von März an für zwei Jahre ausgesetzt wird. Seit jenem Monat sinkt die Anzahl der positiven Asylbescheide: In den ersten zwei Monaten des Jahres hatten noch 98,5 Prozent der syrischen Antragsteller Asyl erhalten, im Juni nur noch 52,6 Prozent – inzwischen hat sich die Zahl bei 30 Prozent eingependelt.

Für die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist es kein Zufall, dass dieser Rückgang ausgerechnet mit dem Aussetzen des Familiennachzugs zusammenfällt. „Den Syrern soll das Leben in Deutschland möglichst unattraktiv gemacht werden“, sagt Geschäftsführer Günter Burkhardt. „Das ist die Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik und ein Zugeständnis der Politik an Rechtspopulisten.“

Zwar will kein Mitarbeiter des Bamf am Telefon Stellung zu diesen Vorwürfen nehmen, sondern man verweist in einer E-Mail darauf, bei den persönlichen Anhörungen beobachtet zu haben, dass bei Syrern „vermehrt ein Bürgerkriegsschicksal, aber kein individuelles Verfolgungsschicksal vorliegt“.

Was soll man schreiben?

Mostafa Abo Nokta fährt mit dem Zeigefinger über die Zeilen auf seinem Fragebogen. Langsam, in holprigem Deutsch liest er die Frage vor, von der er glaubt, dass sie ihm zum Verhängnis geworden ist:

„Waren sie selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder anderen Misshandlungen) von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung; Hinrichtungen bzw. Massengräbern oder Einsätzen von Chemiewaffen? Wann, wo und wie wurden diese Taten begangen und gibt es Personen, die das bestätigen können? Können sie Täter benennen, wo sind diese aufhältig und kennen Sie die Namen?“

Ja, er war dabei. Als in Daraa, Südsyrien, die ersten Demonstranten vom Militär erschossen wurden. Als Assads Leute sein Dorf stürmten, Einwohner erschossen. Vor wenigen Wochen wurde Mostafas Cousin im seinem Heimatdorf von einer Rakete zerfetzt; ein Bekannter hat ihm das Video geschickt. Und ja, die Daten benennen kann Mostafa Abo Nokta auch. Und trotzdem steht im Bamf-Fragebogen nur ein Wort: „Nein.“

„Wie kann man so eine Frage mit Ja oder Nein beantworten?“, fragt Mostafa Abo Nokta. „Weil ich den Schützen nicht kenne, der auf uns beim Demonstrieren geschossen hat? Weil ich den Piloten des russischen Kampfjets nicht beim Namen nennen kann, der meinen Cousin ermordet hat?“

500 Dollar umsonst

Spätsommer 2016. Im Zaatari-Camp in Jordanien ist es kurz nach Mittag, die Temperatur liegt bei knapp 50 Grad. Amani Nokta, Mostafas Frau, steht in einem Pulk Menschen vor der Polizeistation. 80, vielleicht 100 Leute warten alle auf eins: eine Ausreisegenehmigung, die man braucht, wenn man das Camp für nur wenige Stunden verlassen will.

Damals hatte Amani noch Hoffnung. 500 Dollar hatte Mostafa für dieses letzte bisschen Hoffnung an ein Konto in Syrien überwiesen. 500 Dollar – der Schwarzmarktpreis für einen Termin in der deutschen Botschaft in Amman. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte dazu im September, er möchte „Vorwürfe in aller Form zurückweisen“, wonach es „illegalen Handel mit Terminen in den Visastellen deutscher Botschaften gegeben haben soll“.

Und doch sind es 500 Dollar, die jetzt auf Mostafas Konto fehlen. Ein Einkommen hat die Familie nicht. Nicht mehr. Als Mostafa noch in Zaatari gelebt hatte, arbeitete Amani als Englischlehrerin im Camp. Mostafa war Grundschullehrer, erzählt sie. Gleichzeitig hat er für eine amerikanische Organisation, die den umkämpften Süden Syriens mit Lebensmitteln versorgt, als Vermittler gearbeitet. Legal war das nicht.

„Es war besser für ihn zu gehen. Hier wurde es zu gefährlich“, sagt Amani Nokta. Sie ist nicht wütend auf ihren Mann, sie ist wütend auf die Politik. Die in Syrien, die in Jordanien, die deutsche. Die sie vergessen hat im Wohncontainer in der jordanischen Wüste. Sie und die vier Kinder. Hamode, Hanna, Mumin. Zehn, acht, sechs Jahre alt und Sara, das Baby.

Wer ist schuld?

Es ist schon Herbst in Bottrop, gebückt schlurft Mostafa durch die Bottroper Fußgängerzone. Da sind Männer und Frauen, die Händchen halten. Manche schieben Kinderwagen vor sich her. „Was denken die Deutschen von mir?“, fragt er. „Dass ich ein schlechter Vater bin, weil ich meine Familie zurückgelassen habe und mir hier ein schönes Leben mache?“ Immer wieder liest Abo Nokta solche Kommentare im Internet.

„Hast du die Bilder gesehen von dem Lastwagen in Österreich im letzten Jahr? Die Menschen, die in den Schlauchbooten untergehen?“, fragt er bitter. „Ist es falsch, wenn ich nicht will, dass meine Kinder da durchmüssen?“ Den Syrer beschäftigt die Frage: Wer ist schuld, dass meine Familie leidet, während ich in Bottrop Deutsch lernen soll? Ich oder die Politik?

Abo Nokta hat inzwischen gegen sein Urteil geklagt. Auf den vollen Asylstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Erst wenn er den hat, kann seine Frau einen Antrag auf Familiennachzug stellen, so hatte man sie bei der deutschen Botschaft in Amman im Sommer abgewiesen.

Klage gegen das Bamf-Urteil

Mit seiner Klage ist Mostafa Abo Nokta nicht allein: Bis Mitte Oktober haben 18.666 Syrer gegen die Entscheidung für subsidiären Schutz Klage eingereicht. In 80 Prozent der bislang verhandelten Fälle erhielten die Kläger einen höheren Schutzstatus zugesprochen. Das Bamf wiederum geht mit einer massiven Welle von Berufungsverfahren dagegen vor.

Eine Frage bleibt: Wieso kehrt Mostafa Abo Nokta nicht zurück, wenn er seine Familie tatsächlich so vermisst? Wieso setzt er sich nicht in den Flieger nach Jordanien, es gibt One-Way-Tickets von Frankfurt nach Amman für 200 Euro? Er überlegt, starrt auf das erkaltete Bratfett in seiner Pfanne, als würde er darin die Antwort suchen. „Als ich ausgereist bin, habe ich in Jordanien ein Dokument unterschrieben, dass ich nicht mehr zurückkomme“, sagt er leise. „Wenn doch, werde ich nach Syrien abgeschoben.“

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