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„Förderung“ an WaldorfschulenAllein mit dem Heileurythmisten

Mehrmals wöchentlich muss unsere Autorin zur pseudotherapeutischen Heileurythmie – allein. Niemand sagt ihr, warum. Es ist creepy as fuck.

Für die Heileurythmie hat sich die Kolumnistin nicht freiwillig gemeldet Foto: Marijan Murat/dpa

E pochenunterricht. Jeden Morgen 8:00 bis 9:45. Morgengebet, Begrüßung, Sprechübungen, Rhythmusübungen, Singen, Zeugnissprüche und endlich wirklicher Unterrichtsstoff. Meine Klassenlehrerin erklärt etwas. Plötzlich leises Klopfen, die Klassentür öffnet sich vorsichtig und der Heileurythmist steckt seinen Kopf hinein. Er will mich mitnehmen. Also schnappe ich meine Eurythmieschuhe, gehe aus der Klasse in den dunklen Flur und folge ihm. Es ist eine merkwürdige Stille. Normalerweise sind die Gänge und Treppenhäuser mit dem Chaos hunderter Kinder gefüllt. Jetzt bin ich die Einzige und höre hinter jeder Klassentür, an der wir vorbeikommen, gedämpft den laufenden Unterricht.

Die ganze Situation ist unheimlich. Ich laufe schweigend hinter dem ebenfalls schweigenden Heileurythmisten her, den ich nur vom Sehen kenne, bis wir den etwas abseits gelegenen Heil­eurythmieraum betreten. Eine Art Heiligtum. Vorhänge vor den Fenstern. Mildes Licht. Die Akustik irgendwie dumpf. Ich soll die Eurythmieschuhe anziehen und dann einen Fünfstern laufen, während der Heileurythmist Vokale tönt und ich die Arme entsprechend halte. Irgendwann ist es vorbei. Wieder Schuhe anziehen und er bringt mich zurück in meine Klasse. Ich setzte mich leise wieder auf meinen Platz. Alle tun so, als wär nichts, und ich versuche mich zu orientieren, wo wir im Unterricht inzwischen sind.

Das geht nun einige Wochen mehrmals wöchentlich so. Niemand sagt mir, warum ich zur Heileurythmie muss. Wie lange ich noch muss. Was sich dadurch bessern soll. Nichts. Aber ich frage auch nicht. Weil es eben normal ist. „Jeder ist mal dran“. Es ist creepy as fuck. Ich werde es immer unangenehm finden. Ich bin in den Wochen angespannter im Unterricht, weil ich nicht weiß, wann das leise Klopfen kommen wird, der Heil­eurythmist seinen Kopf durch den Türspalt steckt, der Klassenlehrerin zunickt und dann mich anschaut, die ihre Eurythmieschlappen nimmt und die Klasse verlässt. Aber ich habe es nie infrage gestellt. Überhaupt haben wir als Kinder nie darüber geredet.

Irgendwann war ich scheinbar fertig und es waren wieder andere Kinder der 1.-8. Klasse dran.

Pseudotherapeutische Behandlungen

Ich habe letztes Jahr herauszufinden versucht, warum und wann ich zur Heileurythmie musste. Ich glaube, zwei bis drei Mal. Meine Eltern erinnern sich nicht daran, dass mit ihnen darüber gesprochen wurde. In meinen Zeugnissen steht auch nichts. Noch nicht mal, dass ich überhaupt Heil­eurythmie hatte.

Ich wurde also pseudotherapeutisch behandelt, ohne dass eine Indikation und ein „Behandlungserfolg“ zumindest für meine Eltern dokumentiert wurde.

Da es an meiner Schule damals noch keinen Schularzt gab, der das hätte verordnen können, vermute ich, dass es eine Entscheidung der Lehrkräfte in einer „Kinderbesprechung“ war. Personen ohne entsprechende Qualifikationen haben mir also Therapie verordnet, weder mit mir noch mit meinen Eltern drüber gesprochen und mich kommentarlos mit einem mir gruseligen Typen allein in einen Raum geschickt. Niemand hat je gefragt, wie es mir dabei geht. Es war halt so. Daher habe ich zu Hause auch nichts erzählt und war einfach froh, als es wieder vorbei war.

Heileurythmie ist übrigens eine der wichtigsten Komponenten bei dem, was Waldorfschulen „individuelle Förderung“ nennen.

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12 Kommentare

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  • Eine Freundin besuchte eine Münchner Waldorfschule und hatte von Beginn an Probleme, dem Unterricht zu folgen, da sie kaum etwas erkennen konnte. Sie wurde jahrelang ohne Erfolg mit Heileurythmie 'behandelt', bevor sie schließlich darauf bestand, einem Augenarzt vorgestellt zu werden. Der stellte eine erhebliche Kurzsichtigkeit fest und mit Brille nachte sie dann doch noch ihren Weg.

  • Was mich intessieren würde, wäre in welcher Zeit das statt fand. Es gab einfach Zeiten, da wurde es ohne Dokumentation und aus dem Bauch heraus gemacht. Das wird heute nicht mehr sein. Wenn das im den 80er oder 90er gewesen ist, hat es für mich einen ganz anderen Stellenwert. Heute wird das so intransparent sicher nicht mehr erlaubt sein

  • Kann nicht so schlecht gewesen sein die Waldorfschule. „Frau Lea“ darf immerhin in der TAZ schreiben. Aber schon „creepy“ diese Waldorf schule von „Frau Lea“. Ich wäre gern auf die Waldorfschule gegangen und noch lieber in eine Waldorf-Kita. Gutes Bio- Essen, oft selbst gekocht. Kein billiges Plastikspielzeug und Reizüberflutung. Keine sinnlosen Noten, viel Handarbeit, singen und Märchen und tolle Vorbilder, außer der Creepy Eurethmielehrer. Vielleicht liest der das ja und ist ganz traurig, dass Frau Lea nie was gesagt hat. Oder er freut sich, dass sie für die TAZ schreibt.

  • Eine Aufarbeitung Ihrer Schulzeit ist Frau Lea sehr zu wünschen, um ihre Zukunft ohne historische Last leben und gestalten zu können.

    Doch finde ich es bedauerlich, dass sie mit ihren persönlichen Erlebnissen in der Verallgemeinerung stecken bleibt, keine wirkliche journalistische Auseinandersetzung und damit ein einseitiges Bild der Waldorfschulen bietet. Fast so als würden untragbare Einzelfälle oder skandalisierte Vorkommnisse in Sprengelschulen das staatliche Schulsystem grundsätzlich in Frage stellen.



    Das es in allen Systemen auf dieser Welt auch unzureichende Strukturen und Verhaltensweisen gibt, ist eine Binse, und sollte nicht zu Verallgemeinerungen führen, schon gar nicht wenn dies aus dem "persönlichen Nähkästchenblick" erfolgt; auch in einer Kolumne nicht.

    Eine Auseinandersetzung mit solchen Themen sollte auf ernsthaftem Wege erfolgen und nicht in einer Kolumne in regelmäßigen Abständen versucht werden. Das wirkt schon etwas gezwungen Krankhaft und führt in diesem Sinne nicht dazu eine gesunde Aufarbeitung des Erlebten zu erreichen.



    Wie wäre es denn mit einer neuen Serie der sachlichen Auseinandersetzung zum Thema Waldorfschule. Da hätten alle Leser und vor allem Eltern von angehenden Schulkindern etwas davon, statt sich mit persönlichen geschilderten Vergangenheitserlebnissen auseinandersetzen zu müssen.

    • @Sonnenhaus:

      Absatz 1: Vergiftetes Mitgefühl



      Absatz 2: Verharmlosung der Erlebnisse und Diskreditierung der Autorin



      Absatz 3: siehe 2:



      Absatz 4: Belehrung, wie die taz-Leute die taz zu gestalten haben incl. Küchentischpsychatrie und die ungesunde Verwendung der Wörter "krankhaft" und "gesund"



      Absatz 5: Vergifteter Neuererervorschlag

      Die taz und Frau Lea machen alles richtig, wenn solche Schaumvormmund-Kommentare wie der von mir auseinanderklamüserte provoziert werden...

  • So ein Fünfsterngedöns zu Tanzen als eine therapeutische Behandlung zu interpretieren ist schon krass. So sieht Tanztherapie sicher nicht aus.

  • Ich war auch auf einer Waldorfschule und kann das Beschriebene nur bestätigen. Es traf jedes Jahr ein paar neue Kinder, die in die Heileurythmie mussten: Einzelunterricht mit Lehrer*innen, die oft nicht den regulären Eurythmie-Unterricht für die ganze/halbe Klasse leiteten. Für die Betroffenen und den Rest der Klasse war völlig intransparent, wer warum wann in diese Einzelstunden musste – und um was für eine "Heilung" es ging. Es war einfach normalisiert. Der Begriff "Heileurythmie" transportierte, die Betroffenen seien irgendwie schwere Fälle. Und in der Tat traf es überdurchschnittlich viele Kinder, die Außenseiter*innen waren undoder als minderbemittelt galten. In der Tat alles ziemlich creepy und einer der vielen Gründe, warum Waldorfschulen so sehr an Sekten erinnern.

  • Ja, die beschriebene Situation ist tatsächlich mehr als nur seltsam.



    Creepy as fuck sind dennoch in erster Linie die Texte von Frau Lea, die hier einfach nur aus ihrem persönlichen Nähkästchen plaudert. Mehr ist das ja nicht.

    • @tazziragazzi:

      Es ist doch super, wenn Betroffene öffentlich ihre Erfahrungen teilen. Frau Lea beschreibt eindrücklich das Beklemmende an der Heileurythmie: das Schweigen drumherum, das fehlende Vertrauensverhältnis zu den Sonderlehrer*innen, die Intransparenz und fehlende Dokumentation, den pseudotherapeutischen Aspekt. Und sie verweist auf den allgemeinen Stellenwert der Heileurythmie für die "individuelle Förderung" in Waldorfschulen. Das Problem hat weitaus mehr System als Sie es mit ihrer Einzelfall-Rhetorik suggerieren.

    • @tazziragazzi:

      Ich finde die Kommentare der Elternteile von Waldorfschulkinder zur Verteidigung aller schiefen Bausteine der Steiner-Ideologie und ihre Verachtung der Erinnerungen von "Frau Lea", die wohl ned ohne Grund unter Alias schreibt, zum Rückwärtsessen gruselig.



      Und nu?

    • @tazziragazzi:

      Das plaudern aus dem Nähkästchen, das kommt bei Kolumnen schon mal vor.

    • @tazziragazzi:

      Abgesehen von der Ausdrucksweise finde ich derartige Einblicke interessant - auch wenn sie keine finalen Erkenntnisse liefern. Sinn und Zweck ist vielmehr eine wichtige Darstellung von Eindrücken, die Fragen aufwerfen: Warum ist so wenig über den Alltag auf Waldorf - Schulen bekannt? Steht Frau Lea alleine mit Ihren Eindrücken, oder liesse sich das von anderen, schweigenden Waldorf - Schülern bestätigen? Warum wird nicht der Nutzen solcher Praktiken stärker unter die "wissenschaftliche" Lupe genommen etc. Für mich sind die aufgeworfenen Fragen ein erster Schritt auf dem Weg zu deren Beantwortung.