Flüchtlingspolitik von unten: „Wir wollten nicht nach Europa“
Aktivisten und Flüchtlinge verfassen ein Manifest für ein offenes Europa. Sie treffen sich dafür an einem symbolischen Ort – auf Lampedusa.
LAMPEDUSA taz | Als er das erste Mal hier ankam, wollte Friday Emitola alles: eine Arbeit, eine Zukunft, ein neues Leben. Exakt 900 Tage ist das her. Nichts davon hat er bekommen. Deswegen ist er heute wieder da. Er steht im Konferenzraum des nagelneuen Flughafens von Lampedusa; es ist der größte Saal, den es auf der winzigen Mittelmeerinsel gibt, und er nimmt das Mikrofon. „Keiner meiner Träume hat sich erfüllt“, sagt Emitola. „Meine Jahre in Europa waren Jahre des Leids und Jahre der Gewalt.“
Der Raum ist brechend voll. Etwa 150 Menschen aus ganz Europa und Tunesien sind gekommen. Wenn sie aus dem Fenster sehen, ist da am Ende der Kalkhügel die Isola dei Conigli, die Kanincheninsel, vor der am 3. Oktober 368 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea ertranken. Jetzt regnet es in Strömen, der Wind bläst über das Meer. Es ist so rau, dass selbst die großen Fähren aus Sizilien oft nicht auslaufen können. Vielleicht acht Wochen wird das noch so bleiben. Im Frühjahr aber werden die Flüchtlingsboote aus Nordafrika wieder kommen. Und dann, so fürchten hier alle, wird das Sterben weitergehen.
„Wir sind keine Touristen. Wir wollten nicht nach Europa. Aber jetzt sind wir hier. Und deswegen wollen wir hier Rechte“, ruft Emitola so laut, wie es jemand tut, der sich des Beifalls gewiss sein kann. Er ist 32 Jahre alt, Automechaniker, geboren in der zentralnigerianischen Stadt Jos. 2011 hat die italienische Marine ihn hundert Kilometer weiter südlich aus dem Meer gefischt, zusammen mit 250 anderen Schiffbrüchigen, die wie er vor dem Krieg in Libyen geflohen waren. Vor dem Nato-Angriff habe er dort ein gutes Leben gehabt, versichert er, der Lohn habe „für eine Zweizimmerwohnung in Bengasi gereicht“.
In Italien war das anders. Das Jahr 2012 verbringt Emitola in einem Auffanglager im toskanischen Lucca, ohne Geld, ohne Job, ohne Perspektive. 2013 setzen ihn die Italiener auf die Straße und er geht nach Hamburg. Doch auch dort will man ihn nicht. Ihn nicht, und die 300 anderen, mit denen er gekommen war, auch nicht. Sie sollen in Italien bleiben – dort, wo sie nach Europa eingereist sind, verlangt der Hamburger Senat mit Verweis auf die sogenannte Dublin III-Verordnung der EU.
„Europa verweigert uns unsere Rechte“, sagt Emitola dazu. „In Italien gibt es nichts für uns, und in Hamburg dürfen wir auch nicht arbeiten.“ Hinnehmen wollten sie das nicht. Für seine Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ demonstrieren über 10.000 Menschen, so etwas gab es in Hamburg noch nie. Kirchengemeinden nehmen die Flüchtlinge auf, sie werden zu einem veritablen Politikum und erregen internationale Aufmerksamkeit. Deshalb werden auch Emitola, ein weiterer Flüchtling und zwei Hamburger Unterstützerinnen nach Lampedusa eingeladen.
Seit Wochen haben Aktivisten diesen Tag in offenen virtuellen Konferenzen im Internet vorbereitet. Das Ergebnis ihrer Mühe ist genau 6.190 Wörter lang. Es ist der Entwurf für die „Carta di Lampedusa“, ein Manifest, verabschiedet an dem Ort, der Symbol ist für Europas Weigerung, sich denen zu öffnen, die nicht wissen, wo sie sonst hin sollen. Es ist der Versuch, die Empörung, das Entsetzen über den vermeidbaren Tod Tausender in Not Geratener irgendwie zu kanalisieren, irgend etwas zu tun, damit nicht im April die nächsten Säcke mit den Überresten ertrunkener syrischer Kinder im Hafen der kleinen Insel ausgeladen werden.
Giusi Nicolini guckt vorbei
Die vielgelobte Bürgermeisterin der Insel, Giusi Nicolini, war am Vorabend gemeinsam mit einer Gruppe lokaler Frauen erschienen. Ein italienischer Fernsehsender filmt ihren Auftritt; sie begrüßt die Aktivisten, lobt ihr Vorhaben und erinnert daran, dass auch sie vor fast genau einem Jahr einen offenen Brief verfasst hatte: „Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden?“, hatte sie gefragt. Die europäische Einwanderungspolitik nehme die Menschenopfer in Kauf, schrieb sie, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Nicolini kam damals mit einer halben Seite aus. Mehr Platz bräuchte auch die Carta nicht: Das Papier fordert schlicht offene Grenzen und die rechtliche Gleichstellung von Migranten. Doch das Ganze ist auch eine politische Inszenierung. Und so wird die Präambel jetzt in großer Schrift auf eine Leinwand projiziert.
Filippo Furri, ein junger Italiener, arbeitet in Paris bei der Organisation Migreurop, die all die Netzwerke, Initiativen und NGOs zu koordinieren versucht, die ein flüchtlingsfreundlicheres Europa verlangen. „Die Tragödie im Oktober hat endgültig demonstriert, dass es so nicht weiter geht“, sagt er. Doch geschehen sei nichts. Der Papst, der Ministerpräsident, die EU-Kommissare – „sie alle sind gekommen, es gab eine große Medienblase, und dann blieb alles beim Gleichen.“
Die berühmte documenta X
Ähnliche Chartas, Manifeste, Aufrufe erscheinen fast im Monatsrhythmus. Politische Folgen haben sie meist keine. Eine Ausnahme war 1997 der Aufruf „Kein Mensch ist illegal“, veröffentlicht auf der documenta X in Kassel. Er löste eine relativ stabile soziale Bewegung aus, die Erfolge hatte in ihrem Kampf für die Rechte Papierloser und Asylsuchender. Aber heute? Wo im Minutentakt Onlinepetitionen für alles mögliche starten? „Wir wollten es uns deshalb nicht leicht machen“, fordert Furri. „Es ist ein symbolischer Ort. Es sollte auch uns etwas kosten, hierher zu kommen“, sagt er. „Jetzt ist die Zeit, um Allianzen zu bilden.“ Die Aktivisten wollen vor der Europawahl politischen Druck aufbauen.
Das Lager, in dem Emitola hier einst saß, ist nach Bildern von Misshandlungen von Insassen durch Wärter im Dezember vorerst geschlossen worden. Dieses Mal wohnt Emitola mit seiner Reisegruppe in einer Ferienwohnung. Dennoch habe ihm die Reise zugesetzt, sagt er. „Hier kommt der ganze Schmerz der Flucht zurück.“ Doch auf der Bühne verbreitet er Kampfeslust wie ein amerikanischer Motivationstrainer: „Ihr sollt wissen: Dieses Jahr ist das Jahr, in dem wir mit all diesen Dingen Schluss machen. Wir haben eine große, europäische Bewegung gestartet. Wir können die Dinge ändern. Und es wird Zeit, dass wir anfangen.“
Die Debatte wird von einer Art Präsidium geleitet, deren Mitglieder an zwei Laptops parallel den italienischen und den englischen Text bearbeiten.
Es ist ein politisches Wunschkonzert für jedermann. Jeder kann Änderungswünsche anmelden, wenn niemand schreit und der Geräuschpegel nicht durch Murren anschwillt, tippen die Schriftführer sie ein. Wenn die Leute protestieren, den Schriftführern die Änderungen aber gefallen, auch. Und umgekehrt. Es ist ein Marathon des Rufens und Debattierens, eine ungestüme, italienische Kakofonie. Drei Mikrofone sind eingeschaltet, manchmal reden Leute in alle drei gleichzeitig.
Emitola hält sich in der Debatte zurück. Unter den Teilnehmern befinden sich fünf Afrikaner und ein tunesischer Aktivist. Das europäische Publikum besteht teils aus anarchistischen oder autonomen Gruppen, doch anders als in Deutschland sind diese hier durchaus in der Lage, mit bürgerlichen Gruppen zusammenzuarbeiten.
Das Manifest für die Rechte der Migranten wird also von Europäern geschrieben. Was ist so eine Carta wert? Emitola wiegt den Kopf. „Stimmt, es gibt hier kaum Migranten. Wir sollten mehr sein. Aber die Leute hier wissen, wovon sie reden.“ Der alte Streit über die Autonomie der Migration bricht auf. Ein Mann beschwert sich: „Der Text tut so, als sei Migration etwas völlig Natürliches, das im Wesen des Menschen angelegt ist. Die Folgen des Kapitalismus, der die Menschen fort treibt, fallen da völlig unter den Tisch.“
Emitola hat deswegen keine Einwände. „Sie teilen Afrika auf wie einen Kuchen“, sagt er. „Afrikaner kommen erst seit wenigen Jahren nach Europa und die Leute beschweren sich. Dabei beuten sie unseren Kontinent seit Jahrhunderten aus.“
9 Stunden, 7 Minuten
Obwohl sich die Diskussion zäh hinzieht, bleiben alle bei der Stange. Das ist der große Vorteil des abgelegenen Tagungsortes: Niemand kann weg. Es regnet in Strömen, der Wind heult durch die Flughafenhalle, und auf der Insel ist nichts los. Das Flüchtlingslager wurde wegen miserabler hygienischer Bedingungen geschlossen. Zwei Polizisten in Ausgehuniform stehen am Eingang. Sie kommen von Zeit zu Zeit rein, weil ihnen langweilig ist. Niemand stört sich an ihnen.
Der Flughafen ist zwar groß, hat aber kein Café. Es gibt nichts zu essen. Vor dem einzigen Snack-Automaten ist eine lange Schlange. Die Leute ziehen für 90 Cent Limone-Roter-Pfeffer-Chips und kleine Wasserflaschen heraus. In der Ecke sitzt eine Gruppe Clowns auf dem Boden, aber sie sehen trauriger aus als alle anderen Anwesenden. Sie hatten offensichtlich vorgehabt, eine Performance zu machen. Doch die Stimmung ist zu geschäftig, die Performance fällt aus.
Ein älterer Herr meldet sich. Ihm reicht nicht, dass gefordert wird, nur „verlassene“ Immobilien sollten Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden. Er wünscht, dies möge mit allen „nicht benutzten“ Häusern geschehen. „Wer ein Jahr nicht vermietet, zahlt entweder mehrfache Grundsteuern, oder die Gemeinde kann über sein Haus verfügen.“ Das gefällt dem Schwarm.
Immer wenn ein Absatz zu Ende diskutiert ist und noch einmal vorgelesen wird, beklatschen ihn alle, als handele es sich um die Verkündung von etwas, das nun geschehen wird und nicht um eine bloße Wiederholung alter, minoritärer Forderungen.
Um 19.22 Uhr ist alles fertig. 9 Stunden, 7 Minuten hat es gedauert, wahrlich keine schlechte Zeit für die Teilnehmerzahl und die Zweisprachigkeit. „Ab Montag gehen wir raus und sorgen dafür, dass Taten folgen“, ruft der Moderator unter lautem Jubel. Eine Million Unterschriften wollen die Aktivisten sammeln. Am nächsten Vormittag werden Termine für Veranstaltungen in ganz Europa zusammen getragen, auf denen die Carta präsentiert werden soll. Emitola lässt sich von dem Optimismus anstecken. „Ich hin sehr glücklich“, sagt er. „Unsere Reise durch Europa begann hier. Und jetzt beginnt hier eine neue Reise.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service