Flüchtlingsintegration in Sachsen-Anhalt: Joakin ist ein echter Eckartsbergaer
Groß war die Aufregung in Eckartsberga, als die ersten Flüchtlinge kamen. Die taz hat die kleine Stadt vor einem Jahr besucht – und nun erneut.
Auf Flipflops kommt sie über Laminat, das wie Wasser glänzt. Hier streift man freiwillig die Straßenschuhe ab. Eben hat das ein Freund aus der Gemeinschaftsunterkunft getan, bevor er sich in die Polster fallen ließ. Filimon Hayle soll auch ein Stück Stollen nehmen, bedeutet ihm Karina Rech, „traditioneller deutscher Kuchen“. Der zögert. „Kein Schwein?“ Gelächter – zumindest bei den Deutschen.
Mimi Muluneh blickt verständnisvoll. Ihr Ehemann, Tilhun Demeke Waldehawariyat – kurz Enesh genannt –, ist schon in den beigefarbenen Polstern versunken und hält Sohn Joakin im Arm, der mit zwei Zähnchen einen Beißring traktiert. Im Fernseher läuft Deutsche Welle, pausenlos Nachrichten, Panzer, Ruinen, gottlob ohne Ton – denn hier ist so etwas wie Weihnachtsruhe eingekehrt. Nach Jahren der Flucht.
„Schmeckt gut!“ Filimon Hayle hebt seinen Wuschelkopf, deutet auf den Stollen und lobt die Rosinen. Die kenne er aus Asmara, der Hauptstadt Eritreas, wo er vor zwanzig Jahren geboren wurde. Am Tisch gießt Mimi Muluneh Kaffee nach und beginnt, von ihrer Odyssee zu erzählen, die sie von Ostafrika über Libyen hierher nach Eckartsberga ins südliche Sachsen-Anhalt geführt hat.
14 Tage durch die Sahara
Im Nachbarland Sudan haben sie und Enesh geheiratet, erzählt Mimi Muluneh. Bald darauf ging es mit 33 anderen auf einem Pick-up durch die Sahara, erzählt die Eritreerin, die gut Deutsch versteht, aber lieber auf Englisch antwortet. Immer wieder hieß es warten, weil Grenzpatrouillen die Durchfahrt verhindern wollten. 14 Tage dauerte die Reise. „14 Tage? Wie hält man das aus?“, fragt Karina Rech entgeistert. Mimi Muluneh lächelt milde. Hitze am Tag, Kälte bei Nacht. Noch Kaffee?
In Sicherheit waren sie in Bengasi, wo sie das Mittelmeer erreichten, nicht. „Six months in prison“, fährt Muluneh fort, sechs Monate Gefängnis wegen illegaler Einreise. Danach schlug sich das Paar nach Tripolis durch, wo Muluneh Arbeit fand. Irgendwann ging es über das Mittelmeer. 2015 kamen die beiden in Deutschland an. Wenig später brachte sie ein Bus nach Eckartsberga, in das Städtchen mit der tausendjährigen Eckartsburg. Wenn man durch das Fenster lugt, kann man den Bergfried sehen.
„Das höre ich heute zum ersten Mal.“ Karina Rech ist baff. „Ich habe nicht gefragt. Die sind hierhergekommen, und es ging darum, Not zu lindern“, sagt sie. „I have a problem“ – so habe sich Mimi Muluneh in der Gemeinschaftsunterkunft an Karina Rech gewandt und erzählt, dass sie schwanger ist. Das war vor über einem Jahr.
Karina Rech, Mutter, Physiotherapeutin und engagierte evangelische Christin, hat sich von Anfang an um Flüchtlinge gekümmert, hat Bekleidung gesammelt, war beim Café der Begegnung dabei, hat den Fremden zugelächelt, wenn es mit der Sprache nicht klappte – kurzum, sie wollte den Flüchtlingen das Gefühl geben, angenommen zu werden.
Die Aufregung hat sich gelegt
Das Städtchen hat sich schwergetan, als im Oktober 2014 die ersten Flüchtlinge kamen und den grauen Dreigeschosser, tristes Überbleibsel eines DDR-Kinderferienlagers, bezogen. Es gab eine Versammlung, auf der die Einwohner ihre Bedenken vortrugen. Die Gemeinde wollte gegen die Entscheidung des Landkreises klagen. Die Aufregung war groß. Sie hat sich wieder gelegt. Viele brachten Geschirr, Bekleidung, Fahrräder in die Gemeinschaftsunterkunft. Die Bürgermeisterin trennte sich von ihrem Heimtrainer. Und jetzt ist Joakin, kaum neun Monate alt, ein echter Eckartsbergaer. Jedenfalls fast. Geboren wurde er in Apolda, auf halbem Wege nach Weimar.
Nicht jede Geschichte, die über Wüste und Wasser führt, ist so hoffnungsfroh. Ihr Bruder sei verschollen, erzählt Mimi Muluneh. Seine Spur verliert sich auf Malta. Karina Rech hat sich an das Rote Kreuz gewandt. Keine Hinweise. Und eine Idylle ist auch die Zweizimmerwohnung nicht. Und das liegt nicht nur am Schimmel, der sich an der Außenwand ausbreitet. Er ist so hartnäckig, dass er die Familie wieder wohnungslos machen könnte.
Enesh Waldehawariyat ist aufgestanden. Er reicht Joakin vorsichtig an Karina Rech, die sich mit dem Jungen auf den Teppich setzt. Der 34-Jährige wirkt ein wenig verloren. Vielleicht liegt das daran, dass er sich weder auf Englisch noch auf Deutsch mitteilen kann. Seine Frau hingegen strahlt, bei aller Ungewissheit, etwas Unantastbares aus, wenn sie durch die Wohnung geht. Eigentlich ist die ganze Einrichtung, das meiste davon Spenden, ein Bollwerk gegen Unsicherheit: die Spülmaschine, der Plüschtiger, die Kunstblumen und der Glasschrank mit seinen Kelchen und Sektgläsern, symmetrisch angeordnet, als wollte das Kristall eine göttliche ewige Ordnung nachstellen.
Doch unter dem Arrangement lauert das Chaos. Mimi Muluneh holt aus einer Schublade voller Papiere zwei Dokumente heraus. „Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines Asylverfahrens“ steht dort gedruckt, Stempel und Bundesadler, eingeklebte amtliche Genehmigungen, gültig bis zum 31. 12. 2016. Die Papiere der beiden. Gewiss werden sie vom Ausländeramt des Burgenlandkreises verlängert. Sesshaft wird man so aber nicht.
Bleiben oder weiterziehen?
Wollen sie denn in Eckartsberga bleiben? Sicher, die beiden, altorientalische Christen, planen Joakins Taufe in der Stadtkirche für nächsten Sommer. Sonntags besuchen sie den evangelischen Gottesdienst, und Enesh Waldehawariyat würde gern, nach Absolvierung eines Sprachkurses, in einer Autowerkstatt arbeiten. Ein Job für seine Frau dürfte sich auch finden lassen. Plötzlich aber wirkt auch sie verunsichert. „In Eckartsberga they like me“, sagt sie. Karina Rech ahnt, wie es in ihr arbeitet. Alle Flüchtlinge aus der Gemeinschaftsunterkunft sind, sobald sie ihre Anerkennung haben, fort, erzählt sie, nach Ingolstadt, Düsseldorf, Berlin.
Mimi Muluneh schaut sich um. Durchquert man Länder und Kontinente, um die Zukunft in einem Anbau mit mintgrüner Fassade und angedeutetem Fachwerk zu planen? Der Fernseher zeigt immer noch Szenen aus Aleppo und dem Irak. Dann spannt sich die Landkarte Ostafrikas über den Bildschirm – das Horn von Afrika, das Rote Meer und Eritrea. Enesh Waldehawariyat blickt nur kurz dorthin und wendet sich ab. Als würde ihn nichts mehr mit der alten Heimat verbinden.
Vermutlich hat die kleine Familie gar keine andere Wahl, als in der „Toskana des Nordens“ zu bleiben. So nennen Touristiker die sanfte Landschaft mit Burgen und Weinstöcken. Ab Mitte Januar soll in Sachsen-Anhalt eine Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge gelten. Ein Bagger zermalmt den Dreigeschosser, der sich vor der Gemeinschaftsunterkunft erhob. Sollte noch einer im Ort befürchtet haben, dass auch hier Flüchtlinge einziehen – der Greifarm zerstreut diese Angst.
„Ein bescheuertes Wort“
Man könnte aber auch Rudi Gollmann fragen. „Wir sind mit der Problematik nicht unzufrieden“, sagt Gollmann im Büro der Gemeinschaftsunterkunft und lehnt sich zurück. „ ‚Problematik‘! Was für ein bescheuertes Wort“, korrigiert sich der 54-Jährige sofort. „Thematik“, sagt er und wiederholt das Wort. Gollmann leitet die Ausländerbehörde des Landkreisamts. Er war derjenige, der in den letzten Jahren wie ein Quartiermeister eine Flüchtlingsunterkunft nach der anderen aushob. Der Widerstand war groß. In der Gemeinde Tröglitz brannte ein Haus. Jetzt hat sich die „Problematik“ auch semantisch entschärft.
18 Unterkünfte hat Gollmann eröffnet, jetzt schließt er die ersten. In Eckartsberga wohnen 45 Asylsuchende, vor einem Jahr waren es über 60. Die „Zuweisungszahlen“ sind rapide gesunken, fährt Gollmann fort. Auch der neue Heimleiter, ein Mann mit hoher Stirn und freundlichen Augen, strahlt eine große Portion Optimismus aus. Beim Gang durch die Unterkunft fallen Worte wie „familiär“ und „Nestgefühl“. Auch wenn sie sich langsam abnabeln, Mimi Muluneh und ihre Familie gehörten weiterhin zu seinem „Betreuungsbereich“. Rudi Gollmann spitzt die Ohren. Er wohnt in Eckartsberga und hätte wohl nichts dagegen, wenn zumindest einige seiner „Zuweisungen“ hierblieben.
Eigentlich ist Eckartsberga für Kleinfamilien ideal. Eine Kita, eine Grundschule, zwei Kaufhallen. Jobs könnte die Fabrik für Thüringer Klöße bieten. Der Heimleiter öffnet ein Zimmer, Kühlschrank, TV, zwei Eisenbetten, ein Bettchen aus Holz. Morgen kommen neue Bewohner, berichtet er. Drei Flüchtlinge aus Eritrea – Vater, Mutter und Kind.
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