Flüchtlingshelfer über Zuwanderung: „Im Grundgesetz steht, dass alle Menschen gleich sind“
Wie Integration gelingen kann und was wir von Zuwanderern erwarten können. Andreas Tölke erklärt es. Er kämpft für ein weltoffenes Deutschland.
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taz: Herr Tölke, könnte die liberale Demokratie in Deutschland am Thema Migration zerbrechen?
Andreas Tölke: Das muss nicht passieren. Wir als Demokraten müssen aber aus der Schockstarre über den rechten Rand hinauskommen. Wir sind deutlich in der Mehrheit, die AfD treibt uns vor sich her und bestimmt den Diskurs. Die freie Gesellschaft darf sich nicht von Rechtsextremen treiben lassen.
taz: Was heißt das konkret?
Tölke: Wenn Onkel Heinz auf der Familienfeier gegen Ausländer hetzt, muss Onkel Heinz eben gehen – nicht der, der widerspricht. Kurz gesagt: Wir dürfen den Rechten auf keinen Fall Räume preisgeben, nicht die analogen und schon gar nicht die digitalen.
ist ehemaliger Lifestyle-Journalist, der seit Jahren in der Flüchtlingshilfe aktiv ist. 2017 gründete er das von Geflüchteten betriebene Restaurant „Kreuzberger Himmel“.
taz: Sie klingen optimistischer als so mancher, der den Untergang der Demokratie kommen sah, als die AfD für den Antrag der CDU/CSU im Bundestag stimmte.
Tölke: Das Allergefährlichste ist, sich auseinanderdividieren zu lassen – es muss der Konsens betont werden und ein klares Bekenntnis zur Demokratie geben, auch von Herrn Merz. So ein Bekenntnis schließt die AfD grundsätzlich aus. Folgt man der Hufeisentheorie, haben ganz links, ganz rechts und religiöse Fanatiker einen Konsens: Menschen in „nutzlos“ und „nützlich“ zu kategorisieren.
Dieser Text ist Teil des Projekts taz Panterjugend: 26 junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, Nachwuchs-journalist:innen, -illustrator:innen und -fotograf:innen, kommen im Januar 2025 zu digitalen Seminaren zusammen und im Februar zu einer Projektwoche in die taz nach Berlin. Gemeinsam entwickeln sie zur Bundestagswahl Sonderseiten für die taz – ein Projekt der taz Panter Stiftung.
taz: Sie haben Ihr Leben seit 2015 der Unterstützung von Zuwander:innen aller Couleur gewidmet. Warum bewegt Sie das Thema so sehr, dass Sie ihr Leben danach ausrichten?
Tölke: Weil man keine Kontrolle darüber hat, wo man geboren wird. Ich habe mir doch nicht ausgesucht, Deutscher zu sein. Ich hatte einfach Glück beim Sperma-Bingo – dass ich hier geboren bin und nirgendwo anders. Soll ich mich durch meine Nationalität ermächtigt fühlen, andere danach zu beurteilen, ob sie wertvoll oder wertlos sind? Das ist doch bizarr.
taz: Was entgegnen Sie dem rassistischen Kampfspruch „Ausländer raus“ von AfD-Anhänger:innen und bestimmten Sylt-Tourist:innen?
Tölke: Miteinander. Eine diverse Gesellschaft ist eine gerechtere Gesellschaft. Ich glaube an die Kraft von Vielfalt. Es ist genau diese Kraft, die wir dem Destruktiven und Spalterischen der AfD entgegensetzen müssen. Diese „Sekte“ hetzt pauschal gegen Zuwanderung, obwohl sie weiß, wie wichtig diese für Deutschland ist. Ohne Migration und Integration gäbe es den Wohlstand nicht, den wir in Deutschland haben.
taz: Sie sagen, Migration macht Deutschland reicher. Es gibt Linke, die das als Verwertungslogik skandalisieren.
Tölke: Ich finde die wunderbaren Visionen einiger Linker entzückend. Man kann träumen von einem Übermorgen, in dem wir ohne jede soziale Not absolut friedlich und egalitär zusammenleben. Aber das ist nicht der Status quo. Es müssen Gesellschaften überzeugt werden, nicht Plena. Das heißt, man muss auch ökonomische Argumente verwenden, um für Migration zu werben. Ich würde einen fröhlich pragmatischen Weg vorschlagen.
taz: Wenn Deutschland so stark auf Migration angewiesen ist, warum erleben wir dann einen Schwenk auch liberaler und linker Parteien hin zu einer restriktiveren Asylpolitik?
Tölke: Weil es in den letzten Jahrzehnten keiner Partei gelungen ist, Lösungen dafür zu finden, wie Menschen legal nach Deutschland einreisen und dann sozial und ökonomisch integriert hier leben können.
taz: Aber es gibt doch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und auch andere legale Einreisemöglichkeiten.
Tölke: Ja, aber dieses Gesetz ist ein Paradoxon. Unter dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz holen wir Leute bewusst auf unseren und ihren Wunsch ins Land – selbst dann müssen sie mit zum Teil grotesken bürokratischen Hürden kämpfen. Das Gesetz ist zugleich eine Schimäre. Es tut so, als ob es funktioniert. Doch das tut es nicht. Weder für die, die damit nach Deutschland gelockt werden, noch für die, die mit einem Aufenthaltsstatus schon hier sind.
taz: Und wie löst man dieses Problem?
Tölke: Wir müssen zunächst verhindern, dass die Gesellschaft auseinanderreißt. Anstatt ein Narrativ aufzubauen, das den Gewinn von Zuwanderung betont, wird überproportional betont, was dysfunktional ist, was uns von „denen“ trennt. Ein größerer sozialer Friede führt dazu, dass Extremismus sich auf natürliche Art und Weise beschränkt. Da müssen wir hin.
taz: Es gibt eine Reihe erschütternder Gewalttaten, teils begangen von ausreisepflichtigen Asylbewerber:innen. Ist es nicht verständlich, dass viele eine Reaktion darauf verlangen?
Tölke: Ich würde einen Schritt zurückgehen und fragen, warum das Entscheidende die Herkunft des Täters ist und nicht die Tat. Wieder die Sichtweise, dass uns Migration bedroht. Aber wir leben in einem Rechtsstaat. Recht, das für jeden gilt, der sich in Deutschland aufhält. Straftaten müssen verfolgt werden. Wir haben es bei abgeschobenen afghanischen Straftätern gesehen: In ihrer Heimat sind sie Helden. Doch kein Opfer einer Straftat will, dass der Täter unbehelligt davonkommt.
taz: Sie sagen also, dass es Menschen gibt, die abgeschoben werden müssen?
Tölke: Ja, es gibt gerechtfertigte Abschiebungen. Manche von denen, die hierherkommen, verwirken ihr Recht, hier zu bleiben. Auch das gehört zum Rechtsstaat.
taz: Was behindert Integration am meisten?
Tölke: Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die hier sind, möglichst zügig in Arbeit und Ausbildung und universitäre Kontexte gebracht werden. Das müssten sich viel mehr Menschen klarmachen, die in ihren Blasen unterwegs sind und die Verantwortung auf Politik, Bürokratie oder Medien abwälzen. Tatsache ist: Wir schieben gut integrierte Leute nachts um halb drei aus ihren Wohnungen ab, die eigentlich Bleiberecht hätten. Gleichzeitig schaffen wir es nicht, identifizierte Gefährder dingfest zu machen.
taz: Wie finden Sie das?
Tölke: Mechanisierte Abschiebungen jenseits einer Rechtsgrundlage machen mich wütend. Das ist alles destruktiv und fußt auf einer nationalistischen Auffassung. Es wird immer mehr unterschieden zwischen Menschen, die nutzlos sind, und solchen, die nützlich sind. Im Grundgesetz steht aber klipp und klar, dass alle Menschen gleich sind. Wenn wir Fremde nur unter einer Nutzenperspektive einschätzen, sind wir auf dem Weg in einen Bereich der deutschen Geschichte, den wir bitte nie wieder betreten.
taz: Sie halten also eine zu harte Migrationspolitik für nicht vereinbar mit den Werten des Grundgesetzes?
Tölke: Sie ist aus allen möglichen Gründen nicht zielführend. Weder für die Alterspyramide noch für den sozialen Frieden. Wir müssen uns darauf konzentrieren, wie wir Migration wirklich sinnvoll organisieren können. Fragen Sie doch mal die Bubble in Prenzlauer Berg, wie viele Freundinnen sie haben, die muslimisch oder jüdisch sind; wie viele Freunde sie haben, die eine andere Hautfarbe haben.
taz: Worauf wollen Sie hinaus?
Tölke: Wir haben es mit einem strukturellen Rassismus quer durch die Gesellschaft zu tun. Bei dem zum Beispiel die Elite einen schwarzen Menschen bei einer Vernissage feiert – denn man ist ja so liberal. Derselbe Mensch wird aber an der nächsten Bushaltestelle angepöbelt – weil er „schwarz“ ist.
taz: Von welcher Elite sprechen Sie und was werfen Sie ihr vor?
Tölke: Das sind Leute, denen bewusst ist, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt und dass wir Probleme mit der Wirtschaft und Zuwanderung haben. Als Reaktion auf die herausfordernde Wirklichkeit ziehen sich diese Leute zurück und igeln sich ein. Sie packen nicht an, sondern holen die Klangschalen raus, machen Yoga und suchen nach mentaler Erfüllung – während draußen Verteilungskämpfe stattfinden. Der Rückzug ins Private ändert nichts. Demokratie ist Mit-Gestaltung. Die Opferrolle können wir getrost der AfD überlassen.
taz: Welche Rolle spielt dabei, ob sich Deutschland als Einwanderungsland versteht – oder eben nicht?
Tölke: Eine große! Dass wir ein Einwanderungsland sind, ist noch lange nicht von allen verinnerlicht. Obwohl allein ein Blick auf die Bevölkerungsstruktur hilfreich wäre. Den Menschen ist oft nicht klar genug, wie sehr Deutschland von Migration profitiert hat – und wie sehr es auch weiterhin darauf angewiesen ist.
taz: Wir haben über deutsche Verfehlungen beim Thema Migration gesprochen. Gibt es auch Verhaltensweisen von Zugewanderten, die das Ankommen erschweren?
Tölke: Natürlich gibt es das. Wir haben es oft bei jungen Männern, die zum Beispiel die Klamotten einer Frau grenzwertig finden, um es vorsichtig auszudrücken. Man kann von einem Straßenjungen aus Kabul nicht erwarten, dass er sofort versteht, was Geschlechtergerechtigkeit und gleiche Rechte für Frauen sind. Es geht darum, unsere zentralen Parameter zu vermitteln. Was ist die demokratische Grundordnung und was ein friedliches Miteinander? Und es muss betont werden: Die Freiheit, die du hier hast, ist genau die Freiheit, die du allen anderen zugestehen musst. Das muss jemand nicht sofort verstehen, aber sofort so respektieren. Wenn wir diese Art von Verfassungspatriotismus nicht hinbekommen, funktioniert es nicht.
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