Flüchtlinge in Berlin: Oranienplatz, letzte Runde
Gegen die verbliebenen Flüchtlinge der besetzten Schule wird geklagt. Derweil such der Innensenator nach Bleibeperspektiven.
Im vergangenen Juli hatte das Bezirksamt um Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) die zivilrechtliche Räumungsklage eingereicht. Wie Heinrich Baasen, Rechtsamtsleiter des Bezirks, der taz bestätigte, geht es dem Bezirk darum, „die Flächen der Schule zurückzubekommen“.
Weil er aber den Besetzern im Sommer 2014 schriftlich ein Wohnrecht einräumte, scheiterte der Bezirk 2015 vor dem Verwaltungs- und dann vor dem Oberverwaltungsgericht damit, per Verwaltungsakt eine Räumung durchzusetzen. Dies gehe nur durch einen Räumungstitel beim Zivilgericht, so die damaligen Urteile. Genau dies peilt der Bezirk nun an; Baasen sieht „gute Chancen“ für einen Erfolg.
Bei der Verhandlung wird die Bewertung des Einigungspapiers vom Juli 2014 eine zentrale Rolle spielen. Darin hatten sich Besetzer und Bezirk auf einen 10-Punkte-Plan geeinigt, der neben dem Verbleib in den oberen Etagen der Schule inklusive Nutzerausweisen und Sicherheitsdienst auch Forderungen nach einem Aufenthaltsrecht umfasste.
Streit um das Einigungspapier
Der Bezirk argumentiere nun, „das Papier sei null und nichtig, da es zeitlich nicht befristet gewesen sei“, sagte der Anwalt der Bewohner, Ralph Monneck, der taz. Für den Fall, dass das Gericht dem nicht folgt, hat der Bezirk sicherheitshalber das Papier selbst aufgekündigt.
Anwalt Monneck sieht die Bedingung zur Kündigung allerdings als nicht erfüllt. Der Vertrag ende erst, wenn alle Bewohner Aufenthaltstitel erhielten. „Mit individuellen Papieren wären die Leute zufrieden“, so Monneck.
Im Oktober 2012 besetzten Asylbewerber aus ganz Deutschland den Oranienplatz – aus Protest gegen die Unterbringung in „Lagern“, Residenzpflicht und Abschiebungen. Im Dezember besetzten sie auch die ehemalige Schule in der Ohlauer Straße.
In Verhandlungen mit dem Senat erreichten die Besetzer im März 2014 eine Einigung. Sie sah vor, dass die Flüchtlinge den Platz räumen und die Schule verlassen, der Senat versprach dafür Sprachkurse, Arbeitsmöglichkeiten und eine erneute Prüfung ihrer Aufenthaltstitel. Doch bis Herbst 2014 bekamen nur drei von über 570 Männern, die sich registrieren ließen, eine Duldung.
Schon vorher hatten die Bewohner der Schule erklärt, für sie gelte die Einigung mit dem Senat nicht. Im Juli 2014 endete ein polizeilicher Räumungsversuch nach tagelangen Protesten mit der Unterzeichnung eines Einigungspapiers mit dem Bezirk, das mehreren Dutzend Bewohnern dort ein Wohnrecht zusicherte.
Wie viele ehemalige Oranienplatz-Leute heute in Berlin leben, weiß niemand. Einige haben geheiratet bzw. Kinder bekommen, Kirchengemeinden versorgen etwa 130, in der Schule leben 24, weitere Männer werden von der Gruppe Lampedusa Berlin bzw. privat versorgt. (sum)
Bürgermeisterin Herrmann wollte sich dazu nicht äußern, wie der Bezirk bei einem erfolgreichen Prozessausgang weiter verfahren werde. Ob es im Bezirk eine Mehrheit für einen erneuten polizeilichen Räumungsversuch geben würde, ist nach den Erfahrungen von 2014 aber zumindest fraglich. Möglich erscheint, dass dann weitere Gespräche stattfinden, die auch Lösungen des individuellen Aufenthaltsrechts beinhalten.
Um das Bleiberecht geht es derzeit auch für eine weitere Gruppe von 130 ehemaligen Oranienplatz-Flüchtlingen, die sich in der Obhut evangelischer Kirchengemeinden befinden. Über ihr Schicksal wird seit über zwei Jahren verhandelt. Unter Rot-Schwarz blockierte der damalige CDU-Innensenator Frank Henkel offenkundig eine Lösung, umso größer sind die Hoffnungen seit dem Regierungswechsel.
Laut Koalitionsvertrag will Rot-Rot-Grün die „Vorschriften des Aufenthalts- und Asylrechts“ so anwenden, „dass sie die Integration erleichtern und Bleibeperspektiven auch in bislang ungelösten Fällen ermöglichen“. In der Tat finden derzeit Gespräche zwischen Innensenator Andreas Geisel (SPD) und der Kirche zur Frage der Oranienplatz-Leute statt. Dies sagte ein Sprecher der Innenverwaltung auf Nachfrage der taz.
Was den Stand der Verhandlungen betrifft, geben sich die Beteiligten indes zugeknöpft. Pfarrer Peter Storck von der evangelischen Kirche Heilig-Kreuz-Passion sagte der taz immerhin, dass es „recht fruchtbare“ Gespräche seien. Mehr dürfe er nicht verraten. Kein Wunder: Es gibt genügend Kräfte in der Stadt – von CDU und AfD über Teile der Medien bis hin zu „besorgten Bürgern“ –, die eine Einigung im Sinne der Oranienplatz-Leute alles andere als gutheißen würden. Für sie sind die Flüchtlinge seit der Besetzung des Platzes nichts anderes als Erpresser, mit denen der Staat nicht verhandeln dürfe.
Kirche geht die Puste aus
Die Kirche hatte die Gespräche mit dem Senat vor zwei Jahren angestoßen, nachdem Dutzende Männer vom Oranienplatz im Herbst 2014 die Kreuzberger Thomaskirche besetzt hatten – aus Verzweiflung darüber, dass ihnen Henkels Ausländerbehörde Aufenthaltstitel verweigerte. Im März 2015 erklärte der Regierende Bürgermeister Michael Müller nach einem Gespräch mit Bischof Markus Dröge, es werde eine „juristisch akzeptable Lösung“ gesucht. Nach der sucht man bis heute.
Unterdessen scheint der Kirche bei der Versorgung der Männer langsam die Puste auszugehen. Seit mehr als zwei Jahren kümmern sich verschiedene Kirchengemeinden ehrenamtlich um Oranienplatz-Leute, geben ihnen Schlafplätze, Essen, ein kleines Taschengeld, versuchen sie zu beschäftigen und zu ermutigen. Anfangs waren es knapp 90 Flüchtlinge, irgendwann bis zu 130.
Doch inzwischen haben einige Kirchengemeinden nach taz-Informationen ihre Hilfe wieder eingestellt, einzelne Unterkünfte wurden geschlossen, Männer auf die Straße gesetzt. Wer genau die Glücklichen sind, für die die Kirche nun über ein Bleiberecht verhandelt, ist daher nicht bekannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance