Flüchtlinge aus der Ukraine: Die neue Bahnhofsmission

Freiwillige Helfer nehmen im Berliner Hauptbahnhof geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Empfang. Die kommen zunehmend mit Zügen aus Warschau an.

Flüchtlinge aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nehmen sich nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof angebotene Heißgetränke

Freiwillige bieten den Ankommenden heiße Getränke an Foto: Paul Zinken / dpa

BERLIN taz Im Hauptbahnhof weisen Aufsteller mit blau-gelben Balken und Pfeilen den Weg. Wer ihnen folgt, landet im hinteren, unteren Teil des Bahnhofs, wo es auch Richtung U-Bahn geht. Dort stehen am Mittwochmorgen etwa 200 Menschen mit ihrem Gepäck in Rucksäcken und Tüten in kleinen Gruppen zusammen, einige sitzen auf Koffern oder an den dort aufgestellten Holztischen und -bänken. Viele der Menschen, die derzeit vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, kommen mit Direktzügen aus Warschau in Berlin an, täglich gibt es fünf planmäßige Verbindungen.

„Wer in Berlin bleiben möchte, bitte auf diese Seite“, sagt Marcus, ein freiwilliger Helfer, auf Englisch, und dirigiert zwei Frauen auf die rechte Seite eines Absperrbands. Alle anderen, die sich unsicher sind oder weiterreisen möchten, bittet er auf die andere Seite. Und den Freiwilligen, die ebenfalls stetig ankommen, erklärt er, wie sie sich nützlich machen können.

Auf dem zugigen Durchgang über den unteren Gleisen ist in den vergangenen Tagen ein inoffizieller Info-Punkt entstanden, an dem zahlreiche Hel­fe­r*in­nen in gelben Warnwesten die ankommenden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Empfang nehmen und ihnen erklären, wie es weitergeht. Denn zunehmend kommen Menschen aus der Ukraine am Bahnhof an.

Shuttle-Service BVG-Sprecher Markus Falkner sagte gegenüber der taz, sein Unternehmen habe der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales bereits am vergangenen Wochenende Unterstützung durch Shuttle-Fahrten für Geflüchtete angeboten. Die ersten Touren hätten am Montag stattgefunden, vor allem zwischen dem Hauptbahnhof und der Erstanlaufstelle in Reinickendorf. Seit Dienstagabend sei der Bedarf merklich gestiegen.

Kostenfreie Fahrten Die im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) organisierten Verkehrsunternehmen, die Geflüchteten aus der Ukraine kostenfreie Fahrten im Nahverkehr ermöglichen, wollen das nicht alleine vom Nachweis der Staatsangehörigkeit abhängig machen. Der Verband hatte am Dienstag mitgeteilt, wer einen ukrainischen Pass oder Personalausweis vorlegen könne, müsse vorerst bis 31. März kein Ticket lösen. Allerdings sind auch Menschen mit anderen Nationalitäten auf der Flucht aus der Ukraine. Das sei dem VBB bewusst, teilte Sprecherin Elke Krokowski der taz mit. „Das Kontrollpersonal in den Fahrzeugen ist für diese Thematik sensibilisiert und wird mit Augenmaß und Kulanz vorgehen.“ (clp)

Das offizielle Ankunftszentrum des Landes, in dem sie alle registriert und teils auch ein paar Tage untergebracht werden können, ist allerdings in Reinickendorf. Die Hel­fe­r*in­nen erklären daher, wo es zu den Bussen geht, und versorgen die Geflüchteten mit dem Nötigsten. In einer Ecke steht ein Tisch mit Flyern. An weiteren Tischen schmieren Freiwillige Brote, verteilen gespendete Lebensmittel und schenken Tee aus, auch Hygieneartikel können die Flüchtlinge hier bekommen. Eine junge Frau verteilt Münzen für den Toilettenbesuch. „Das ist doch wirklich dumm, dass die Klos hier nicht frei zugänglich sind“, sagt sie.

Schlange vor dem Reisezentrum

Viele der neu Angekommenen wirken müde, aber gefasst. Einem jungen Mädchen laufen die Tränen über das Gesicht, sie weint leise, aber ohne aufzuhören. „Wir kommen aus Kyiv und sie kann nicht fassen, dass wir weg mussten“, sagt ihre Mutter. Weiter hinten sitzt einsam ein kleiner Junge mit Spiderman-Kapuze auf einem Berg von Taschen und spielt mit einem Handy. Ein Pärchen trägt neben den Koffern auch zwei durchsichtige Plastikrucksäcke mit seinen Katzen darin.

Ein junger Mann aus Marokko fragt, wie es weitergeht. Er sei seit sechs Tagen unterwegs, zu Fuß habe er die Grenze zu Polen überquert. „Alle ohne ukrainischen Pass mussten einen ganzen Tag an der Grenze warten“, erzählt er. „Darunter waren auch viele Frauen und Kinder. Einige sind vor Schwäche ohnmächtig geworden.“ Nur mit zwei kleinen Rucksäcken ist am Morgen mit dem Zug aus Warschau angekommen, er will erst mal in Berlin bleiben. „Ich habe Zahnmedizin in der Ukraine studiert. Ich hatte viele Pläne“, sagt er. „Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Vielleicht finde ich ja Hilfe hier.“

Vor dem Reisezentrum auf der mittleren Ebene des Bahnhofs hat sich eine lange Schlange gebildet. Wer weiterfahren will, bekommt hier von der Bahn ein kostenloses Ticket – wenn er oder sie einen ukrainischen Pass hat oder eine Niederlassungserlaubnis. Hier helfen Freiwillige als Sprach­mitt­le­r*in­nen für Ukrainisch und Russisch.

Die Freiwilligen organisieren sich spontan. „Wer helfen will, kann einfach herkommen“, sagt Marcus. „Wir brauchen jeden, der Zeit hat.“ Seinen Nachnamen möchte er nicht öffentlich machen. Er selbst ist schon seit einigen Tagen dabei. „Ich habe gesehen, dass die Ankommenden hier kurzfristig und unbürokratisch Unterstützung brauchen“, sagt er. „Klar fände ich es auch geiler, wenn der Senat das organisiert hätte. Aber das macht der halt nicht.“

Medikamente, Ausrüstung und Lebensmittel sammelt das Pilecki-Institut am Pariser Platz täglich zwischen 10 und 18 Uhr. Die Bedarfslisten werden regelmäßig auf Twitter aktualisiert.

Auch der Ukraine-Hilfe Berlin e. V. sammelt Sachspenden. Diese werden aktuell in Wilmersdorf an der Schlangenbader/Ecke Wiesbadener Straße entgegengenommen. Aktuelle Informationen dazu veröffentlicht der Verein auf seiner Webseite. Es wird darum gebeten, die Spenden nach Produktarten in versandfertige Kartons zu sortieren und diese zu beschriften.

Schlafplätze für geflüchtete Ukrainer*innen: Wer Schutzsuchende bei sich aufnehmen kann, sollte sich bei der Wohnungsbörse des Elinor-Netzwerks registrieren.

Freiwillige Hel­fe­r*in­nen werden gebraucht: Besonders gefragt sind Sprachkenntnisse in Russisch und Ukrainisch für Empfang und Unterstützung von Geflüchteten. Außerdem gesucht: Fah­re­r*in­nen für Konvois in den Grenzregionen, u. a. bei Mission Lifeline. (jj)

Innensenatorin ist dankbar

Berlins Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke) betonte am Mittwoch, sie sei den freiwilligen Hel­fe­r*in­nen „unendlich dankbar“. Denn die Zahl der ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine steigt. „Wir haben eine extremst dynamische Situation, die Lage hat sich über die vergangenen Tage dramatisch verändert“, sagte Kipping bei dem spontan anberaumten Pressestatement. In der Nacht zu Mittwoch habe rund 1.400 Menschen in Unterkünften untergebracht. Am Montag seien es noch 350 gewesen.

Noch sei es kein Problem, alle Menschen unterzubringen – auch weil viele privat bei Familie oder Bekannten in der Stadt unterkämen. „Wer ein Bett brauchte, hat eines bekommen“, sagte Kipping. Wie viel Kapazität es am Mittwoch noch gab, konnte sie nicht sagen. Der Senat hatte am Dienstag versprochen, zunächst Unterbringungsmöglichkeiten für 20.000 Geflüchtete schaffen zu wollen. Seit Mittwoch sei nun auch in Neukölln eine Unterkunft einsatzbereit, sagte Kipping. In Pankow habe man Containerunterkünfte reaktiviert. Auch in Spandau sei eine Unterkunft ans Netz gegangen, genauso wie ein umfunktioniertes Hostel in Friedrichshain. Weitere Plätze sollen auch in Potsdam vorhanden sein.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sagte, Berlin brauche die Unterstützung anderer Bundesländer. Die 20.000 Plätze könnten schnell belegt sein. Berlin habe durch die Flüchtlingszuwanderung 2015 viel Erfahrungen sammeln und Modelle entwickeln können, aber diese ließen sich nicht so einfach von heute auf morgen wieder realisieren.

Indes ist der Aufenthaltsstatus der Ukraine-Flüchtlinge weiter unklar. Die EU-Kommission will nun am heutigen Donnerstag zu einer Verabredung darüber kommen, dass sie als Kriegsflüchtlinge gelten. Sie bekämen dann zunächst einen Aufenthaltsstatus für zwwi Jahre und eine Arbeitserlaubnis.

Kurz vor 14 Uhr bereiten sich die Freiwilligen auf die Ankunft des nächsten Zugs aus Warschau vor. Zwei Frauen halten Pappschilder mit blau-gelben Herzen darauf hoch. Freiwillige Hel­fe­r*in­nen kleben sich Schilder mit ihren Namen und den Sprachen, die sie sprechen können, auf ihre Westen. Der Zug fährt ein, doch statt der erwarteten 800 steigen nur rund 100 Menschen aus. Die Hel­fe­r*in­nen begleiten sie die Treppen hinunter, fragen, ob sie weiterreisen oder in Berlin bleiben wollen.

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