Flüchtlinge auf Sizilien: Da ist noch der Padre

200.000 Flüchtlinge könnten dieses Jahr Italien über das Mittelmeer erreichen. Nur 40 Prozent bekommen Asyl. Was wird aus dem Rest?

Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch

Kümmert sich seit 30 Jahren um Flüchtlinge: Padre Carlo D'Antoni Foto: Philipp Eins

SYRAKUS taz | Eigentlich liegt die Wohnung von Padre Carlo D'Antoni ganz idyllisch. Vom schmalen Balkon im ersten Stock des Pfarrhauses hinter seiner Kirche Maria Madre Della Chiesa in Syrakus blickt man auf einen Rosen­garten. Hochgewachsene Kiefern spenden kühlen Schatten in der sizilianischen Sommerhitze.

In der Wohnung selbst verliert sich die Idylle. Es sieht aus wie in einer Notaufnahme. Im Wohnzimmer stehen Stockbetten, im Esszimmer liegen in Plastikfolie eingeschweißte Matratzen eng nebeneinander. Überall sitzt, liegt, döst jemand. Auch auf den beiden beigen, ausgesessenen Sofas, die in einem Durchgangszimmer zur Küche stehen, dem Aufenthaltsraum. Im Fernseher laufen Italowestern aus den 80ern. Kaum einer schaut zu.

Wer hier unterkommt, ist aus Afrika geflüchtet und hat eine oft lebensgefährliche Reise hinter sich. Getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Die Realität auf Sizilien sieht aber anders aus. 60 Prozent der Flüchtlinge bekommen kein Asyl. Sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser oder versuchen, eine der begehrten Arbeitsgenehmigungen zu bekommen. Auf einen Platz im Wohnheim haben sie kein Anrecht. Der Padre oder die Straße – zumindest in Syrakus ist das für sie die Alternative.

Es ist früher Abend. In der Küche mischt sich der Duft angebratener Zwiebeln mit dem leicht muffigen Geruch aus den Fluren und Zimmern. Während Padre D'Antoni den Gottesdienst in der Kirche abhält, bereiten drei Männer das Essen vor. Der 19-jährige Abdou Bah aus Gambia in Westafrika ist einer von ihnen. Er trägt ein ärmelloses Shirt, sein Haar hat er an den Seiten blond gefärbt.

Nach einem Jahr kehrt die Ex-Austauschschülerin Paulina Unfried zurück nach Minnesota. In der taz.am wochenende vom 12./13. August lesen Sie, ob für die Leute dort mit ihrem Wunschpräsidenten Donald Trump nun alles great geworden ist. Außerdem: Eine Reportage aus Sizilien, wo Flüchtlinge ohne Asyl als Wanderarbeiter*innen schuften. Und eine Odyssee des Liebemachens: Wie schwierig im Alter von 60 Jahren doch das Dating geworden ist. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

„Ich dachte, es sei einfach, in Europa einen Job zu finden“, erzählt Bah, während er rote Paprika in kleine Stücke schneidet. Zusammen mit Thunfisch und Reis wird daraus eine Mahlzeit für 25 Personen. „Dass ich die Möglichkeit habe zu studieren, irgendetwas mit IT.“ In Gambia hat er einen guten Schulabschluss. Die Familie war stolz auf ihn. Sie legte Geld zusammen, damit Abdou Bah nach Europa geht. Er sollte etwas Besonderes aus sich machen. „Es war eine lange Reise, ein sehr weiter Weg“, sagt Bah.

Jobben ohne Vertrag

Vor anderthalb Jahren, im Herbst 2015, brach Bah auf. Er reiste mithilfe von Schleppern durch Mali, Burkina Faso und Niger, schlug sich bis Libyen durch. In Tripolis verhaftete ihn die Polizei wegen illegaler Einreise. Einen Monat lang war er im Gefängnis. Eines Tages aber konnte er fliehen. Für 600 Euro bekam er einen Platz auf einem Flüchtlingsboot über das Mittelmeer. „Ich habe gesehen, wie viele Menschen nach Europa wollen, die alle den gleichen Traum haben wie ich“, sagt Abdou Bah. „Ich dachte mir: Es sind so viele Menschen. Nicht alle werden eine Chance bekommen.“

Im Januar 2016 kam der Gambier auf Sizilien an, in der Hafenstadt Pozzallo. Einen Asylantrag stellte er nicht, er wusste, Gambia gilt zwar als eines der ärmsten Länder der Welt, ist aber friedlich. Da er noch minderjährig war, durfte Bah dennoch in Italien bleiben, zumindest vorübergehend. Er kam in eine Casa-famiglia, eine WG mit zwölf anderen Jugendlichen. Er ging zur Schule, lernte Italienisch, belegte Kurse in Gastronomie.

Als er 18 wurde, gab es vom Staat keine Unterstützung mehr. Abdou Bah musste die Wohngemeinschaft verlassen. Er packte seinen Rucksack und zog weiter nach Syrakus. Einen Monat lebte er auf der Straße, bevor er von Padre Carlo erfuhr. Der gab ihm Unterschlupf, kaufte ihm Kleidung, vermittelte Anwälte, um eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Mittlerweile hat der Flüchtling gültige Dokumente.

Doch auch damit ist es nicht einfach, eine Arbeit zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Italien bei 37 Prozent, im Süden ist die Quote noch höher. Derzeit jobbt Bah in einem Coffeeshop. Sechs Tage die Woche steht er nachts in der Küche, von drei bis neun Uhr morgens. Ohne Vertrag. Für 600 Euro im Monat, gerade mal vier Euro die Stunde. Den Großteil schickt er an seine Familie. Sie soll glauben, dass es ihm gut geht.

Eine Frage des Anstands

„Ich muss ständig daran denken, dass meine Familie so viel für meine Reise gespart hat“, sagt Bah. „Ich will es ihnen zurückzahlen. Deshalb versuche ich alles, um Erfolg zu haben.“

Nach dem Abendgottesdienst setzt sich Padre D'Antoni hinter seinen Schreibtisch im Erdgeschoss des Pfarrhauses und steckt sich eine Zigarette an. 1987 ging es los mit den Flüchtlingen, erinnert sich der 63-Jährige. Er nahm zwei junge Männer aus Vietnam bei sich auf. Seitdem sind es jedes Jahr mehr geworden. „Es ist eine Frage des Anstands, den Ärmsten zu helfen und ihnen ein Stück Würde wiederzugeben“, sagt er.

Das sehen in seiner Gemeinde nicht alle so. Seit die Flüchtlinge aus Afrika kommen, haben sich viele von ihm abgewandt. „Früher waren 300 Kinder im Kommunionsunterricht, jetzt sind es nur noch zehn“, sagt der Padre. Die Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder mit den schwarzen Jugendlichen Kontakt haben. Entmutigt hat das den Padre aber nicht. „Papst Franziskus und ich denken genau gleich, was die Flüchtlinge angeht“, meint er.

Zwei Tage später. Wie jede Woche fährt Padre Carlo mit seinem weißen Kleinwagen in ein Camp vor Cassibile, 20 Kilometer südlich von Syrakus. Hier leben 200 Flüchtlinge, sie jobben als Erntehelfer auf Kartoffel- und Tomatenfeldern. Illegal.

Hinter der Autobahnausfahrt biegt der Padre auf eine staubige Piste voller Schlaglöcher, ein trockenes Flussbett. Im Kofferraum klappern Gläser und Dosen mit Vorräten: Reis, Tomatensaft, Zucker, Öl und andere Lebensmittel.

Das Camp liegt in den Ruinen eines verfallenen Bauernhofs, umgeben von einem Fichtenwald. Die Zelte sind gammelig, bestehen manchmal nur aus alten Plastikplanen, die über eine Leine gespannt wurden. Der Padre drückt einige der Männer herzlich an seine Brust, als hätte er sie seit Wochen nicht gesehen. Der Padre steckt sich eine Zigarette an, während die Lebensmittel aus dem Wagen geladen werden. Zwischen den Zelten liegt ein Kühlschrank. Er dient als Vorratskammer.

Den Profit machen andere

Viele Flüchtlinge scheuen die Öffentlichkeit. Erst vor zwei Tagen sind einige in eine Polizeikontrolle geraten. Es gab Festnahmen. Nach dem Abendessen ist ein Mann bereit zu reden, zu seinem Schutz vereinbaren wir, dass er hier Ibrahim Diarra heißen soll. Er ist 30 und kommt aus dem Senegal, seit zwei Jahren arbeitet er illegal als Wanderarbeiter.

„Wir wachen um fünf Uhr morgens auf, dann holt uns ein Auto ab“, sagt Diarra. „Die Kartoffelfelder, auf denen wir arbeiten, liegen oft weit entfernt, manchmal 150 Kilometer.“ Acht bis zwölf Stunden verbringt er unter der glühenden Sonne. Am Tag verdient er selten mehr als 45 Euro. Ein italienischer Feldarbeiter würde für weniger Stunden mehr als doppelt so viel bekommen. Doch wer sich beschwert, hat am nächsten Tag keine Arbeit mehr.

Den Profit machen andere: Landwirte und Obstbauern, aber auch die illegalen Arbeitsvermittler. Sie ­werden Caporale genannt

Den Profit machen andere: die Landwirte und Obstbauern, aber auch illegale Arbeitsvermittler, Caporale genannt. „Das Caporalato ist wie ein Mafia­system“, sagt Diarra. „Der Caporale vermittelt dich an einen Landwirt und nimmt dein Geld – mehr nicht.“ Der Caporale behält einen Euro pro Stunde von jedem Arbeiter ein. Für den Transport zum Feld und zurück müssen die Flüchtlinge pro Tag weitere fünf Euro zahlen. So bleibt von etwa sechs Euro Stundenlohn nur wenig übrig.

Das Caporalato ist in Italien verboten, aber auf Sizilien kümmert sich scheinbar keiner darum. Ohne die Vermittler haben Arbeiter wie Diarra keine Chance auf einen Job. Die Kommunikation läuft über sie. Auch die Caporale sind Fremde, die sich in der Illegalität hochgearbeitet haben. Hier kommen sie meist aus dem Ma­ghreb.

Einen Teil seines schmalen Verdienstes legt Diarra für den Notfall zurück. Wenn er krank wird, will er einen Arzt bezahlen können, sagt er. Mit dem Anwalt einer Hilfsorganisation versucht er, doch noch eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Es gibt viele Schlupflöcher im italienischen Asylrecht – wer findig ist, nutzt sie. Wenn es gelingt, kann der Senegalese an so etwas wie eine Zukunft hier in Europa denken.

Enttäuscht von Europa

„Wenn ich eine Aufenthaltsgenehmigung und einen festen Job habe, möchte ich meine Familie nachholen“, sagt Diarra. „Ich würde gern als Schreiner arbeiten. Oder als Mechaniker. Das würde ich gerne machen.“

Jetzt aber muss er sich darauf vorbereiten, weiterzuziehen. Wenn die Kartoffeln im Sommer abgeerntet sind, reisen er und die anderen Wanderarbeiter aufs Festland. Nach Puglia und Kalabrien, wo sie Oliven pflücken.

Zurück in Syrakus, in der Gemeinde des Padre. Auf einem eingezäunten Fußballfeld neben dem Pfarrhaus kicken einige der jungen Flüchtlinge, die beim Padre wohnen. Fast jeden Abend kommen sie zusammen, wenn die Sonne tief steht und die Luft sich abgekühlt hat. Auch Abdou Bah, der 19-Jährige aus Gambia, ist dabei.

Es gibt Nachrichten, erzählt er nach dem Spiel. Eigentlich könnte er sich freuen. In zwei Monaten werde eine feste Stelle für die Nachtschichten in einem Schnellrestaurant frei – mit Vertrag, für 1.500 Euro im Monat. Bekommt er sie, könnte Bah bei Padre D'Antoni ausziehen, sich ein eigenes Zimmer suchen. Doch eigentlich will er noch immer studieren. Etwas aus sich machen. Auch wenn er daran längst nicht mehr glaubt.

„Ich bin enttäuscht von Europa“, sagt Bah. „Ich habe nur nicht den Mut, nach Gambia zurückzukehren.“ Käme er mit leeren Händen, würde ihn seine Familie verachten. „Das ist das Einzige, was mich hier hält“, sagt er. „Ich möchte nicht, dass jemand schlecht über mich denkt.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.