Fluchtroute über Belarus: Gemeinsame Grenzbegehungen
Innenminister Seehofer fordert mehr Kontrollen an der Grenze zu Polen. Laut der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl verfehlt er damit aber das Thema.
Die Oder-Neiße-Grenze ganz abzuriegeln sei dabei politisch nicht gewollt, und es wäre wohl auch rechtlich nicht haltbar, weil Polen selbst „sehr starke Initiativen“ zum Grenzschutz ergriffen habe, so Seehofer. Brandenburg, wo derzeit die meisten Flüchtlinge aus Polen ankommen, hatte einen solchen Schritt zuvor abgelehnt.
An der deutsch-polnischen Grenze wurden in diesem Jahr, vor allem seit Anfang August, bislang 5.665 unerlaubte Einreisen mit Belarus-Bezug festgestellt. Die Zahlen seien zuletzt stark gestiegen, teilte das Bundespolizeipräsidium am Mittwoch in Potsdam mit. Im laufenden Monat seien bis zum 19. Oktober 3.262 illegale Einreisen mit Belarus-Bezug über Polen verzeichnet worden.
Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP geht die Bundesregierung davon aus, dass derzeit etwa 15.000 Menschen in Belarus auf eine Weiterreise nach Westen warten. Dass die Regierung in Minsk fast alle Visabeschränkungen aufgehoben und so Menschen aus dem Nahen Osten den Weg an die EU-Außengrenzen in Polen erleichtert habe, nannte Seehofer eine „Form der hybriden Bedrohung“.
Er habe Polen indes eine Verstärkung gemeinsamer „Grenzbegehungen“ auf der polnischen Seite angeboten, sagte Seehofer. Bei gemeinsamen Patrouillen an der Oder-Neiße-Grenze soll dabei die Bundespolizei mit den polnischen Beamten „Grenzgänger identifizieren“ und „Straftäter, also Schleuser dingfest machen“. Eine Antwort aus Warschau darauf steht aus.
Aus Sicht des deutschen Innenministeriums hätte ein solches Vorgehen den Vorteil, dass jeder schon auf polnischer Seite aufgegriffene „Grenzgänger“ dort behördlich erfasst werden und folglich nur noch dort einen Asylantrag stellen kann. Die Aussichten auf eine Anerkennung dort sind allerdings ungleich schlechter, weshalb die meisten Flüchtlinge eine Registrierung in Polen zu vermeiden suchen.
In seinem Brief an den polnischen Innenminister Mariusz Kamiński erneuerte Seehofer zudem seine Aufforderung, dass Polen Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex annehmen möge. Was die Grenze zu Belarus angeht, hat Warschau bislang jede Hilfe von Außen abgelehnt und setzt demonstrativ auf eigene Kräfte, darunter das Militär.
In dem Schreiben dankte Seehofer dem Nachbarland Polen ausdrücklich für das Vorgehen bei der „Sicherung unserer gemeinsamen Außengrenze“. Der Regierungspartei PiS nahe stehende Medien zitierten dies erfreut. Kritik an der Tatsache, dass durch das Vorgehen Polens mittlerweile mindestens sieben Menschen im Grenzgebiet zu Belarus gestorben sind, dass Tausende teil schwer misshandelt wurden und teils schon seit Monaten in dem Grenzstreifen feststecken, gab es von Seehofer keine.
„Horst Seehofer hat das Thema verfehlt“, sagt Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von Pro Asyl dazu. „Anstatt die Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen anzuprangern, bezeichnet der Innenminister Geflüchtete als ‚hybride Bedrohung‘ und spricht von Unterstützung Polens bei der ‚Abwehr.‘“ Dies setze die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft, so Kopp.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen