Flucht von Tunesien nach Lampedusa: Hunderte jeden Tag
Italiens Insel Lampedusa ist Hauptziel der neuen Migrationsbewegung aus Tunesien. Die lokalen Behörden nennen die Situation „unkontrollierbar“.
Lampedusas Bürgermeister Totò Martello nannte die Situation „unkontrollierbar“. Wenn die Regierung es nicht tue, werde er den Ausnahmezustand ausrufen. Auf der 20 Quadratkilometer großen Insel befanden sich am Wochenende mehr als 1.000 MigrantInnen, es gibt dort nur ein einziges Aufnahmelager mit Platz für 95 Menschen.
Bei den Ankommenden handelt es sich in der Regel nicht um Flüchtlinge, die an der libyschen Küste in See gestochen sind. Es sind vielmehr Boote, die von verschiedenen Orten Tunesiens aus auf die nur 140 Kilometer entfernte Insel Lampedusa übersetzen. Sie kommen auf Holzbooten, die vergleichsweise seetüchtig sind und auf denen in der Regel zwischen 20 und 40 Menschen Platz haben.
Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Unglücke gibt: Die Initiative Alarm Phone hat allein in den letzten Tagen drei bis vier Unfälle zwischen Tunesien und Lampedusa gezählt. Wie viele Menschen dabei ums Leben gekommen sind, ist unklar.
Küstenwache hielt an einem einzigen Tag 17 Boote auf
In den Booten nach Lampedusa sitzen viele tunesische MigrantInnen, die sogenannten Harraga. Laut dem italienischen Innenministerium machten tunesische Staatsangehörige in diesem Jahr rund 39 Prozent aller über das Meer Ankommenden in Italien aus. Sie waren damit die mit Abstand größte Gruppe, gefolgt von Bengalen (14 Prozent) und Ivorern (6 Prozent).
Ein Teil der aus Tunesien kommenden Boote wird nach Beobachtung des Alarm Phone und der NGO Sea-Watch von der tunesischen Küstenwache abgefangen und zurück nach Tunesien geschleppt. Im ersten Halbjahr könnten etwa genauso viele Menschen auf diese Weise nach Tunesien zurückgebracht worden sein, wie in Italien angekommen sind, schätzt Alarm Phone.
Die Besatzung des von Sea-Watch betriebenen Aufklärungsflugzeugs „Moonbird“ hatte am 16. Juni eine solche Aktion mit Fotos aus der Luft dokumentiert. An diesem Tag wurden die Insassen eines Bootes nach vier Tagen auf See von der tunesischen Küstenwache zurück in den Hafen von Zarzis gebracht – obwohl es bereits in europäischen Gewässern war. Nach Angaben von Sea-Watch waren die italienische Küstenwache und Frontex an der Aktion beteiligt.
Im Juni hatte die tunesische Küstenwache nach UNHCR-Angaben an einem einzigen Tag 17 Boote aufgehalten, die versuchten, nach Italien zu gelangen, und Hunderte der Insassen verhaftet.
Von Lampedusa nach Catania
Tunesien ist eines der Länder, die seit langer Zeit eng mit Italien in Sachen Grenzschutz kooperieren. Seit der Herrschaft des 2011 gestürzten Diktators Ben Ali sind Gesetze in Kraft, auf deren Grundlage subsaharische MigrantInnen in Haft genommen werden können, um eine Überfahrt nach Italien zu verhindern.
Auch tunesischen StaatsbürgerInnen ist die Ausreise nach Italien ohne Papiere untersagt. Die Rechtsgrundlage für die Beziehungen zwischen der EU und Tunesien ist bis heute das 1998 in Kraft getretene Assoziierungsabkommen, in dem der Kampf gegen „illegale“ Migration und eine Ausweitung der Rückführungen von Tunesier*innen bereits explizit vorgesehen sind.
Italien bringt die Ankommenden derzeit unter anderem nach Catania auf Sizilien, von wo aus sie im Land weiter verteilt werden. Die EU-Kommission habe von Italien ein Gesuch erhalten, bei dem es um eine Umverteilung in andere EU-Länder gehe, sagte ein EU-Sprecher am Dienstag in Brüssel. Die Kommission sei nun in Kontakt mit den anderen Mitgliedstaaten.
Salvini spricht von „organisierter Invasion“
Ida Carmina von der mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung sprach sich für Luftbrücken aus, die Menschen von Lampedusa in andere Gebiete bringen könnten. Ein vor Sizilien „vor Anker gehendes Quarantäne-Schiff mit 1.000 Plätzen“ lehnte sie hingegen ab. Das berge Risiken für den Tourismus. Das Innenministerium will mit einem solchen Schiff die Aufnahmezentren in Süditalien entlasten.
„Wir müssen die Mechanismen für die Rückführung nach Tunesien sofort wieder aktivieren“, sagte Außenminister Luigi Di Magio. Er spricht sich damit für eine schnellere Abschiebung nach Tunesien aus – die entsprechenden Vereinbarungen waren nie ausgesetzt worden.
Wenig originell nannte Italiens früherer Innenminister und Chef der extrem rechten Lega Matteo Salvini die Ankünfte auf Lampedusa eine „organisierten Invasion“. Er dürfte darauf spekulieren, dass ihm die Situation bei seinem anstehenden Prozess hilft. Am Donnerstag stimmt der Senat darüber ab, ob Salvinis Immunität aufgehoben wird. Die Staatsanwaltschaft will ihm den Prozess machen, weil er im August 2019 als Innenminister fast drei Wochen lang dem Rettungsschiff „Open Arms“, das 150 Flüchtlinge an Bord hatte, die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigerte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag