Flucht und psychische Belastung: Angst essen Seele auf
50 Prozent der Flüchtlinge sind traumatisiert. Was bedeutet das für sie – und was für die Gesellschaft, in die sie kommen?
Sie kamen mit Fragebögen. PsychotherapeutInnen in Ausbildung und ehrenamtliche ÜbersetzerInnen sprachen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin junge Flüchtlinge unter 24 Jahren an und baten sie, an einer Umfrage teilzunehmen – der „Berlin Health Survey“. Nach Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Folter fragten die Forscher. So sollte ein Bild von der psychologischen Verfassung der jungen Flüchtlinge entstehen. Ein Bild von der Last, die sie mitbringen.
Als die Mitarbeiter des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin von der Untersuchung erfuhren, distanzierten sie sich. Wer in einem ungeschützten Raum explizit nach solchen Erlebnissen frage, gehe das Risiko ein, Traumata zu reaktualisieren, schrieben die Experten in ihrem Statement. Außerdem, so fuhren sie fort, wäre das Fragebogen-Instrument für die Zielgruppe gar nicht geeignet und ermögliche weder eine Einschätzung des Versorgungsbedarfs, noch die Erstellung einer Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Psychosoziale Zentren wie jenes in Berlin gehören zu den Stellen in Deutschland, die schon seit vielen Jahren traumatisierte Flüchtlinge betreuen. Doch ihre Kapazitäten reichen nicht aus.
50 Prozent der Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, schätzt die Bundespsychotherapeutenkammer, leiden unter einer PTBS. Eine psychische Erkrankung, die oft zusammen mit einer Depression auftritt. Zum Vergleich: In der deutschen Bevölkerung haben 2,3 Prozent posttraumatische Belastungsstörungen.
Darüber, was die Flucht mit der Psyche macht, sprechen in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015 Waltraud Schwab und Bettina Schötz mit Vamik Volkan. Der Psychoanalytiker, Friedens- und Konfliktforscher sagt: „Bei einigen der Leute, die nach Deutschland kommen, ist das Trauma so groß, dass ihre Seelen ermordet wurden.“
Das „Wie“ der Trauer
Volkan, den seine Anhänger den „Punk der Psychoanalyse“ nennen, wurde 1932 auf Zypern geboren. Er wendet die Psychoanalyse nicht auf Einzelne, sondern auf Großgruppen an, arbeitet für die UNO und für internationale Hilfsorganisationen. Etwa in Estland und Georgien, nach dem Verfall der Sowjetunion sowie in Israel. Vier mal war er für den Friedensnobelpreis nominiert.
Flüchtlinge haben viel verloren und müssen das betrauern dürfen, sagt der Psychoanalytiker Vamik Volkan. Ein Gespräch darüber, was die Flucht mit der Seele macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015. Außerdem: Rainer Wendt ist Deutschlands lautester Polizist und nie um eine rechte Parole verlegen. taz-Autor Martin Kaul hat den Gewerkschaftsboss begleitet. Und: ein Portrait des schmächtigen Hahns Frank Sinatra – zum hundertsten Geburtstag. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Wenn man ein Land verlässt, ist es entscheidend, ob und wie man den Verlust betrauern kann. Man verliert Gerüche, Nahrungsmittel, man verliert Familienangehörige, das Land und seine Identität“, sagt er. Für die Arbeit mit Flüchtlingen seien Verbindungsobjekte wichtig: eine kaputte Uhr, ein Foto, ein Lied – etwas, das eine Brücke vom Gestern ins Heute schlägt.
Physische Grenzen würden zu psychische Grenzen, sagt Vamik Volkan. Flüchtlinge und Einheimische würden immer zuerst als Gruppe aufeinandertreffen. Selbst wer sich nicht als Deutscher verstehe, tue dies möglicherweise, sobald Flüchtlinge in seinen Ort kommen. Wichtig sei zu vermeiden, dass Andersartigkeit mit Bedrohung verbunden werde. Das müsse man auch den Politikern erklären.
Die Regierung arbeitet gerade an einer erneuten Verschärfung des Asylrechts. Dem aktuellen Entwurf zufolge, sollen posttraumatische Belastungsstörung in Zukunft kein Abschiebehindernis mehr sein.
„Erkrankungen des Ausländers, die schon während des Aufenthalts des Ausländers außerhalb der Bundesrepublik Deutschland bestanden und somit bereits bei Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorgelegen haben, stehen der Abschiebung grundsätzlich nicht entgegen“, heißt es in den Erklärungen. Wer also ein Trauma über die Grenze mitbringt, schafft es auch, es wieder mit zurückzunehmen.
Was meinen Sie: Nimmt die deutsche Politik den psychologischen Aspekt der Flüchtlingskrise ernst genug? Oder ist die Klage, dass es zu wenige Traumatherapeuten gibt, nachrangig – solange es noch um die Frage geht, ob es genug Betten gibt? Läuft, wer die Debatte über die psychischen Belastungen der Flüchtlinge stärken will, Gefahr, dass dadurch Flüchtlinge pauschal als psychisch krank stigmatisiert werden?
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Das ganze Gespräch mit Vamik Volkan „Atmen, wo jemand Feuer legt“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015.
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