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Flucht und SeenotrettungStaatliche Hilfe nicht in Sicht

Die Ampel wollte sich einst für staatliche Seenotrettung im Mittelmeer einsetzen. Passiert ist bislang wenig. Und die Zahl der Flüchtenden steigt.

Lampedusa am 11. Juli: Geflüchtete warten darauf, die „San Marco“ betreten zu können Foto: Alessandro Serrano/Photoshot/picture alliance

Berlin taz | Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa flüchten, ist in den vergangenen Wochen deutlich gestiegen. Allein in den ersten zehn Julitagen sind nach Angaben der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch über 2.000 Geflüchtete auf der italienischen Insel Lampedusa angekommen. „Das Wetter ist immer ein zentraler Faktor, deshalb sind die Zahlen im Sommer oft höher“, erklärt Sea-Watch-Sprecher Oliver Kulikowski. Weil zuletzt immer mehr Menschen mit Booten Lampedusa erreicht hatten, brachten die italienischen Behörden am Wochenende mehrere hundert Menschen aus einem ohnehin schon überfülllten Camp für Geflüchtete auf das Festland.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) sind in der ersten Jahreshälfte bereits mehr als 900 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Mehrere zivile Seenotrettungsorganisationen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer sogar noch deutlich höher liegt. Sie sprechen weiterhin von menschenverachtenden Zuständen an den europäischen Außengrenzen.

Daran hätte auch die Ankündgung der Bundesregierung aus dem Koalitionsvertrag, „eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer anzustreben“, bislang nichts geändert. Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte auf Nachfrage, die Organisation der Seenotrettung sei laut Völkerrecht nach wie vor Aufgabe der Grenzstaaten.

Weiter verweist das Ministerium auf die jüngsten Beschlüsse der EU-Innnenminister:innen von Anfang Juni. Darin einigte sich Nancy Faeser (SPD) mit ihren europäischen Kol­le­g:in­nen auf eine freiwillige Verteilung von Geflüchteten auf zwölf EU-Staaten. Zugleich beinhaltet der Beschluss eine neue Datenbank, die europaweit Fingerabdrücke von Asyl­be­wer­be­r:in­nen sammelt und eine neue Regelung zum sogenannten „Screening“, die es EU-Staaten künftig erlaubt, Menschen auf der Flucht bis zu fünf Tage lang für „Identifizierungs- und Sicherheitskontrollen“ festzuhalten.

Mehr als 24.000 Tote seit 2014

Clara Bünger, Sprecherin für Fluchtpolitik der Linksfraktion im Bundestag, sieht hinsichtlich solcher Beschlüsse noch „keinerlei Anzeichen dafür, dass die Einrichtung einer staatlich getragenen, zivilen Seenotrettung auf europäischer Ebene im Mittelmeer überhaupt zur Diskussion steht.“

Auch Axel Steier, Vorsitzender der Dresdner Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline, die ein Rettungsschiff im Mittelmeer betreibt, hält die bisherigen Versprechen der Regierung für unglaubwürdig: „Wenn die Ampel das Sterben im Mittelmeer wirklich verhindern will, könnte sie sofort mit Evakuierungsflügen Menschen aus Libyen nach Deutschland holen oder selbst Rettungsschiffe schicken.“

Derzeit beteiligt sich die Bundesregierung mit etwa 30 Sol­da­t:in­nen und einem Aufklärungsflugzeug an der EU-Mission „Irini“ im Mittelmeer. Die Einsatzkräfte sollen Schleusernetzwerke bekämpfen und Waffen- sowie Ölschmuggel verhindern. Laut einer Sprecherin des Verteidigungsministeriums sei es bei der Mission bisher aber noch zu keiner Situation gekommen, in der Einheiten der Bundeswehr in einen Seenotrettungsfall einbezogen waren.

Nachdem die Zahl der Geflüchteten über das Mittelmeer zwischen 2016 und 2019 stark gesunken war, wurden seit 2020 wieder mehr Ankünfte in Europa registriert. Aufgrund der durch den Ukraine-Krieg verschärften Ernährungskrise in mehreren afrikanischen Ländern rechnen die zivilen Rettungsorganisationen in den kommenden Monaten mit einem noch stärkeren Anstieg.

Seit 2014 sind laut den Zahlen der IOM mehr als 24.000 Menschen auf der Route über das Mittelmeer gestorben.

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